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08.04.1997 00:00

Sexueller Missbrauch - Auch ein Freispruch stigmatisiert

Ole Lünnemann Referat Hochschulkommunikation
Universität Dortmund

    Medien-Mitteilung der Universitaet Dortmund

    Psychologe der Dortmunder Universitaet unterstuetzt Gerichte mit Gutachten

    Sexueller Missbrauch von Kindern: Auch ein Freispruch stigmatisiert

    Der sexuelle Missbrauch von Kindern sorgt schon seit Monaten fuer Schlagzeilen in den Medien. Der Tod der siebenjaehrigen Natalie in Bayern oder der Fall Dutroux in Belgien erschuettern die Bevoelkerung und lassen die Diskussion um haertere Strafen fuer Sexualdelikte ansteigen. Dabei wird kaum noch differenziert, ob es sich bei dem Taeter um einen sadistischen Kindesmoerder handelt oder um einen Vater, der seine Toechter nur mit allzuviel Zaertlichkeit ueberschuettet. Die Stimmung ist aufgeheizt, und die Aufklaerung einer Straftat deshalb nicht immer einfach. Meist ist das Kind im Strafprozessverfahren der einziger Zeuge, und allein von der Glaubwuerdigkeit seiner Aussage haengt das Urteil ab. Mit der Einschaetzung, ob ein Kind nun die Wahrheit sagt oder nicht, sind Gerichte hoffnungslos ueberfordert. Hilfe holen sie sich daher von psychologischen Sachverstaendigen. Einer der gefragtesten Experten ist derzeit Prof. Dr. Burkhard Schade, Leiter der Arbeitsstelle fuer Forensische Psychologie an der Dortmunder Universitaet.

    Das bundesweit groesste und wohl aufsehenerregendste Verfahren ist der Strafprozess Worms, in den rund 15 Kinder und 20 Erwachsene verwickelt sind. Beschuldigt wurden Stiefvater und weitere Verwandte, die Kinder im Alter von vier bis zehn Jahren sexuell missbraucht zu haben. Um dieser Flut der Anklagen gerecht zu werden, gab es drei parallele Strafverfahren. Ein Prozess endete im Dezember vergangenen Jahres mit Freispruch fuer die Angeklagten. Entscheidend fuer das Urteil des Richters war ein Gutachten von Prof. Burkhard Schade. Der Psychologe hatte darin nachgewiesen, dass die Aussagen der Kinder durch die vielen Befragungen unbewusst manipuliert worden seien. "Kinder werden durch zu viel Fragerei oftmals verunsichert, und am Ende vermischen sich die Realitaetsebenen, und die Kinder koennen nicht mehr unterscheiden. Obwohl der Psychologe den Zeugen keine Absicht unterstellt hat, liegen jetzt mehrere Klagen wegen "UEbler Nachrede" und "Verleumdung" auf seinem Tisch.

    Dabei ist es Aufgabe der Sachverstaendigen, die Wahrheit herauszufinden. Eigens zu diesem Zweck wurde an der Arbeitsstelle fuer Forensische Psychologie ein Fragenkatalog mit sehr zuverlaessigen Pruefkriterien entwickelt. So sind originelle und detaillierte Erzaehlungen immer ein Indiz fuer die Wahrheit. Und genau die habe es im Strafverfahren in Worms nicht gegeben. Burkhard Schade, der als wissenschaftlich international anerkannte Kapazitaet gilt, will mit seinen Gutachten groessere Gerichtskatastrophen verhindern. Dem Psychologen, der selbst Vater von vier Kindern ist, geht es nicht darum, der hysterischen Bevoelkerung einen "Taeter" zu praesentieren, sondern Fehlurteile zu verhindern.

    Denn selbst bei Freispruch sind die Angeklagten fuer den Rest ihres Lebens stigmatisiert. Und die Leidtragenden sind am Ende doch die Kinder. In Worms wurden die Angeklagten fast ueberfallartig verhaftet und das vor den Augen ihrer veraengstigten Kinder, die alle ins Heim kamen. Noch heute kaempft ein freigesprochenes Ehepaar um seine drei Kinder und ein anderer Vater um seinen Sohn. Die Aussichten auf Erfolg sind gering, denn das Jugendamt in Worms folgt dem Urteil des Mainzer Gerichtes schlichtweg nicht.

    Arbeitsstelle seit 1989

    Mehr als 300 Gutachten hat Burkhard Schade mit seinen 14 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den vergangenen sechs Jahren erstellt, eine enge Zusammenarbeit besteht inzwischen mit gut 20 Amtsgerichten, Landes- und Oberlandesgerichten.

    Als die Arbeitsstelle fuer Forensische Psychologie 1989 gegruendet wurde, lag der Schwerpunkt der Gutachtertaetigkeit noch bei Sorgerechtsentscheidungen oder bei der Beurteilung der Schuldfaehigkeit Jugendlicher vor Gericht. Heute beschaeftigt sich jedes zweite Gutachten mit Kindesmisshandlungen oder dem sexuellen Missbrauch von Kindern. Eine Taetigkeit, die den Psychologischen Sachverstaendigen ein hohes Mass an Verantwortung abverlangt und oft Abscheu und Ekel verursacht. Aushalten laesst sich dieser emotionale Druck nur durch viele Pausen und durch das Arbeiten zu zweit. "Auf zwei Schultern laesst sich diese Belastung leichter tragen", betont Burkhard Schade.

    Ob der Missbrauch von Kindern zugenommen hat, weiss der Psychologe nicht. "Gewachsen ist auf jeden Fall die Anzeigenmotivation, d.h. der Unterschied zwischen den hochgerechneten nicht angezeigten Missbrauchsfaellen und den angezeigten ist geringer geworden."

    Auch die Sensibilitaet fuer das Thema sei groesser als frueher, und die Definition des Missbrauchs werde viel weiter ausgelegt. "Kuesst der Opa sein Enkelkind auf den Mund, gilt das schon als sexuelle Grenzueberschreitung". Bei der Definition des sexuellen Missbrauchs herrscht wuestes Durcheinander. Grausame Kindermorde, Paedophilie und Sextourismus gehoeren ebenso dazu wie Exhibitionismus oder Kindesmisshandlungen durch gestresste Eltern.

    Wenngleich auch Frauen zunehmend zu Taeterinnen werden, gehen immer noch 80 Prozent der sexuellen UEbergriffe von Maennern aus. Eine moegliche Ursache sieht Burkhard Schade in der geschlechtsspezifischen Erziehung, die den Jungen stets den aktiven Part zuweist. Dabei stelle der psychisch kranke "Kinderschaender" eher die Ausnahme dar. Vielmehr ereignen sich vier Fuenftel aller Taten im sozialen Nahraum: Da ist der nette Onkel, der freundliche Nachbar oder gar der hilfsbereite Pfarrer. Das Erschreckende ist, so Burkhard Schade, dass viel mehr Menschen als erwartet gegenueber Kindern sexuelle Gefuehle entwickeln und dass viele von ihnen ihre Regungen nicht unter Kontrolle haben.

    Vor diesen "normalen" Menschen gilt es die Kinder durch eine veraenderte Erziehung zu schuetzen. "Kinder muessen das Recht haben sich abzugrenzen. Ein Kind muss nein sagen duerfen zu ungewuenschten Kuessen und Umarmungen. Beruehrungen sind nur soweit erlaubt, wie das Kind es selbst auch will."

    Burkhard Schade, der in Berlin, Frankfurt und Bonn Psychologie studiert hat und eher durch Zufall in diese Richtung geraten ist, beklagt den Mangel an qualifizierten Forensischen Psychologen. Seit einem Jahr setzt er sich deshalb im Auftrag der Deutschen Gesellschaft fuer Psychologie und des Berufsverbandes Deutscher Psychologen fuer die Professionalisierung der Gutachter-Taetigkeit ein. Angelika Willers

    Diese Medien-Information der Universitaet Dortmund kann von Agenturen, Presse- und Funk-Medien honorarfrei genutzt werden.

    Copyright: Pressestelle der Universitaet Dortmund, D 44221 Dortmund

    Ihr Ansprechpartner: Klaus Commer Telefon: 0231-755-4811 Fax: 0231-755-4819 Mail: commer@verwaltung.uni-dortmund.de Internet: http://www.uni-dortmund.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Psychologie
    überregional
    Es wurden keine Arten angegeben
    Deutsch


     

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