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09.11.2006 13:43

Tiefe Hirnstimulation lindert schwere Dystonien

Ingrid Rieck Presse- und Kommunikationsstelle
Universität Rostock

    Deutsche Studiengruppe weist erstmalig erfolgreiche Behandlung nach

    Die tiefe Hirnstimulation lindert die unwillkürlichen Muskelverkrampfungen und Fehlhaltungen bei schweren dystonen Bewegungsstörungen, die nicht ausreichend auf eine medikamentöse Behandlung ansprechen, verbessert die Alltagsaktivitäten der Betroffenen und bewirkt eine Steigerung der Lebensqualität. Das sind die Hauptergebnisse einer multizentrischen Studie unter Leitung der Neurologischen Universitätskliniken in Kiel und Rostock. Das renommierte "New England Journal of Medicine" veröffentlicht die Ergebnisse in seiner Ausgabe vom 9. November 2006.

    Unter Dystonie versteht man eine Fehlfunktion bei der Kontrolle von Bewegungen, die vom Gehirn ausgeht und zu unwillkürlich verzerrenden Bewegungen, Fehlhaltungen und Muskelverkrampfungen führt. Die Erkrankung kann einzelne Körperabschnitte oder den gesamten Körper erfassen. In Deutschland allein gibt es mehr als 160.000 Betroffene. Für die schwersten Formen der Dystonie, die sogenannte generalisierte oder segmentale Dystonie, die weite Bereiche des Körpers erfassen und ohne erkennbare Ursache im Kindes- oder Erwachsenenalter auftreten, konnte jetzt erstmalig gezeigt werden, dass eine gezielte Neurostimulation in tiefen Hirnkernen zu einer weitreichenden Symptomlinderung führen kann. Das renommierte "New England Journal of Medicine" berichtet in seiner Ausgabe am 9.11.2006 über die Ergebnisse einer Multizenterstudie unter deutscher Leitung und bestätigt damit die Bedeutung dieser Ergebnisse für die Fachwelt und die zukünftigen Behandlungsmöglichkeiten von Dystonie-Patienten.

    Erstmalig wurde die tiefe Hirnstimulation im inneren Pallidumglied (Globus pallidus internus) in einem kontrollierten prospektiven Untersuchungsaufbau mit einer Kontrollgruppe verglichen, die eine Scheintherapie erhielt. Zu diesem Zweck wurden alle in Frage kommenden Patienten durch die operative Implantation von Stimulationselektroden in das innere Pallidumglied und eines Neurostimulationssystems versorgt, nur bei der Hälfte der Patienten wurde nach der Operation aber eine effektive Stimulation eingestellt. Nach dreimonatiger Behandlungsdauer wurden die Verbesserung der Krankheitssymptome in beiden Gruppen anhand von Videoaufnahmen der Patienten durch zwei unabhängige Experten aus den USA und England beurteilt. Scheinstimulierte Patienten zeigten eine durchschnittliche Verbesserung der dystonen Bewegungen um nur 4.9% während die tiefe Hirnstimulation eine 39%ige Linderung bewirkte.

    Im Anschluss an die verblindete 3-Monatsphase wurde bei allen Patienten eine effektive Stimulation eingestellt. Nach sechsmonatiger Nachbeobachtung zeigte sich in der gesamten Gruppe eine Verbesserung der Dystonie um 46%, der Alltagsaktivitäten um 41% und der Lebensqualität um 31%. Diese Befunde sind um so bedeutender, weil für diese Patientengruppe keine medikamentösen Behandlungsalternativen bestehen. Die Erkrankung hatte bei den am schwersten betroffenen Patienten zu einer Bettlägerigkeit oder Rollstuhlpflichtigkeit geführt. Bei einigen dieser Patienten konnte durch die tiefe Hirnstimulation eine Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Pflegemaßnahmen wiederhergestellt werden. Bleibende Nebenwirkungen traten durch die Operation nicht auf. Allerdings erforderten Wundheilungsstörungen oder technische Probleme mit dem Implantat bei etwa jedem fünften Patienten eine Nachbehandlung. Unter der Stimulation selbst war als einzige relevante Nebenwirkung eine leichte Verschlechterung der Sprache in 15% der Fälle zu beobachten, die jedoch meist durch Umstellung der Stimulationsparameter behoben werden konnte.

    Während die tiefe Hirnstimulation als Behandlungsmethode bei der Parkinson-Krankheit anerkannt ist und weltweit an Tausenden Patienten durchgeführt wurde, gab es bislang bei der Dystonie nur Einzelberichte oder kleine Fallstudien. Das Verfahren war daher in der Neurologie nicht allgemein akzeptiert. "Unsere Studie wird Auswirkung auf die Behandlungsempfehlungen für Patienten mit Dystonien haben", so der Studienleiter Privatdozent Dr. Jens Volkmann, Neurologische Klinik der Universität Kiel. "Wir haben einen neuen Weg gefunden, den schwer betroffenen Patienten zu helfen und ein Leben mit geringerer Behinderung zu führen." Der Studienleiter Prof. Dr. Reiner Benecke, Neurologische Klinik der Universität Rostock, ist stolz darauf, dass "es der deutschen Arbeitsgruppe unter Leitung der Universitäten Kiel und Rostock gelungen ist, mit relativ geringen Forschungsmitteln in dem hochinnovativen Forschungsfeld der Tiefen Hirnstimulation durch die jetzt publizierten Forschungsergebnisse einen wichtigen Meilenstein für die weltweite Behandlung diese Patientengutes gesetzt zu haben".

    Die Studie wurde an neun deutschen Universitätskliniken unter Beteiligung von je einem Zentrum in Österreich und Norwegen durchgeführt. Der Verbund der deutschen Universitätskliniken war im Rahmen des Kompetenznetzwerkes Parkinson-Syndrom durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unterstützt worden. Das BMBF hat medizinische Kompetenznetzwerke mit dem Ziel gefördert, die klinische Forschung in Deutschland zu stärken und die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Diese Studie ist ein Beweis für die Fähigkeit und Bereitschaft deutscher Wissenschaftler, internationale Spitzenleistungen in einer fachübergreifenden Kooperation zu erzielen. Die Studie konnte nur durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit von Neurologen und Neurochirurgen im multizentrischen Verbund erfolgreich abgeschlossen werden. Die klinisch neurowissenschaftliche Forschung in Deutschland hat mit dieser innovativen Therapiestudie ihre Stellung in der internationalen Spitzengruppe bestätigt.

    Verantwortlich: Priv.-Doz. Dr. Jens Volkmann
    Leitender Oberarzt der Neurologischen Klinik
    Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel
    Schittenhelmstr. 10
    24105 Kiel
    Tel. 0431 - 597 8509
    Fax 0431 - 597 8501
    j.volkmann@neurologie.uni-kiel.de

    Prof. Dr. Reiner Benecke
    Direktor der Klinik für Neurologie
    Universität Rostock
    Gehlsheimer Str. 20
    18147 Rostock
    Tel. 0381 - 494 9510
    Fax 0381 - 494 9512
    reiner.benecke@med.uni-rostock.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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