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17.03.2000 12:14

Defekte "Zellkraftwerke" als Ursache vielgestaltiger Erkrankungen

Ingrid Godenrath Stabsstelle Zentrale Kommunikation
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

    In der Zeit vom 31. März bis zum 2. April 2000 findet an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg das 2. Kolloquium über Mitochondrien und Muskelerkrankungen (Myopathien)statt. Dieser internationale Kongress bringt über 200 Spitzenforscher aus aller Welt zusammen - hauptsächlich Biochemiker und Neurologen, die sich mit der Bedeutung von Mitochondrien in der Medizin beschäftigen - um über Erkrankungen zu diskutieren, die durch defekte Mitochondrien hervorgerufen werden. Die Tagung beginnt um 8.30 Uhr im Festsaal des Universitätsgebäudes Kröllwitzer Straße 44 in Halle.
    Mitochondrien sind Bestandteile der Zellen. Ihre wichtigste Aufgabe: die Energie herzustellen, die für fast alle Reaktionen des menschlichen Organismus notwendig ist. Deshalb werden sie auch als die "Kraftwerke" der Zellen bezeichnet. Sie sind - außer in den roten Blutzellen, den
    Erythrozyten - in den Zellen des gesamten menschlichen Organismus' vorhanden.

    Defekte - und was sie bewirken

    Die Mitochondrien haben eine eigene DNA. In dieser Erbsubstanz können Defekte auftreten, die der Grund für eine Vielzahl von Krankheitssymptomen und -syndromen sind. Bekannt ist das erst seit ungefähr zwanzig Jahren. Und die Erkenntnis, dass dafür Veränderungen der Erbsubstanz dieser Zellbestandteile "zuständig" sind, ist noch wesentlich jünger. Da die Spermien bei der Befruchtung der Eizelle keine Mitochondrien einschleusen können, stammen letztere - und damit auch ihre "Defekte" - immer von der Mutter ab. Wenn mitochondriale Erkrankungen vererbt werden, geschieht das demnach nicht auf dem Wege der Mendelschen Erbregeln, sondern "maternal". Die Mutter vererbt die Mitochondrien (und damit die Erkrankung) allen Kindern, aber nur die Töchter können diese an die dritte Generation weitergeben.


    Vielschichtige Krankheitsbilder

    Die ursprünglich beschriebenen, durch defekte Mitochondrien hervorgerufenen Erkrankungen betrafen vor allem die Muskulatur und das Gehirn. Deshalb fasste man sie unter der Bezeichnung "Mitochondriale Enzephalomyopathien" zusammen. Es ist eine klinisch sehr vielschichtige Gruppe, die auch eine Vielzahl anderer Organe und Organsysteme betreffen kann. Heute ist die Zahl der Erkrankungen, bei denen
    mitochondriale Defekte eine Rolle spielen, kaum mehr überschaubar. Defekte Mitochondrien sind aber nicht nur die Ursache von Erkrankungen, sie sind Sensoren und Signalgeber für die Auslösung des programmierten Zelltodes (Apoptose) und sind für die Alterungsvorgänge zumindest mitverantwortlich. Längst hat sich also herausgestellt, dass Mitochondrien mehr sind als nur die Kraftwerke der Zellen, weshalb man auch von mitochondrialer Medizin spricht. Inzwischen ist bekannt, dass fast alle "wichtigen" Organe oder Organgruppen durch defekte Mitochondrien in Mitleidenschaft gezogen werden können: Gehirn, Skelettmuskel, Herz, Bauchspeicheldrüse, Innenohr, Auge, Magen-Darm-Trakt und auch das Blut. Das Wissen darüber wächst ständig und ist noch längst nicht am "Endpunkt" angelangt. Es hat sich vielmehr so vermehrt, dass mit der Erarbeitung therapeutischer Strategien begonnen werden kann, die ebenfalls eine große Rolle auf der Tagung spielen.
    Drei Themen stehen deshalb dort im Vordergrund: 1. Der Zusammenhang zwischen dem ursächlichen genetischen Defekt und der Schwere der Erkrankung 2. Die Bedeutung der Mitochondrien für das Altern und 3. Die zentrale Bedeutung der Mitochondrien für den programmierten Zelltod.
    Prof. Guiseppe Attardi (California Institute of Technology, Pasadena) wird Aufsehen erregende Ergebnisse zur Rolle der Mitochondrien beim Altern vortragen, die kürzlich in dem führenden Wissenschaftsjournal Science publiziert wurden. Es geht hier um den Nachweis neuer, altersabhängiger Mutationen in der mitochondrialen Erbsubstanz. Prof. Vladimir P. Skulachev (Moskau)referiert über ein verallgemeinerungsfähiges Modell der Apoptose und über Möglichkeiten zur Elimination defekter Mitochondrien (Mitoptose), die auch therapeutische Bedeutung haben können. Prof. Paolo Bernardi (Padua)spricht über die Zusammenhänge zwischen der Mitochondrienfunktion und dem Zelltod. Neben vielen anderen namhaften Forschern werden aber auch Nachwuchswissenschaftler teilnehmen. So werden aus einigen Labors (Konstanz, Zürich, Kaunas) die kompletten Forschungsgruppen nach Halle kommen.

    Zur Diagnose

    Erschwerend für eine Diagnose ist die Vielschichtigkeit der Krankheitsbilder. Sie treten meist erst im Erwachsenenalter auf - zwischen dem 20. Und 30. Lebensjahr, manchmal noch später. Oft sind nur einzelne Symptome zu erkennen, deren isolierte Beurteilung leicht zu "Fehldiagnosen" führt. Es unbedingt wichtig, den "ganzen Patienten" zu betrachten. Das ist im Muskelzentrum der Medizinischen Fakultät an der
    Martin-Luther-Universität besonders gut möglich.

    Das Muskelzentrum in Halle

    Aus der gesamten Bundesrepublik werden inzwischen Menschen, bei denen der Verdacht auf eine mitochondriale Erkrankung besteht, an die Klinik und Poliklinik für Neurologie der Martin-Luther-Universität unter ihrem Direktor Professor Dr. Stephan Zierz überwiesen. Im spezialisierten Muskellabor der Klinik und in den Fachabteilungen werden die Zusammenhänge zwischen den molekularen Defekten, den Funktionsstörungen der Mitochondrien und dem klinischen Zustand der Patienten untersucht. Die enge Verzahnung der vielfältigen Labormethoden und der Klinik bei der Untersuchung der mitochondrialen Erkrankungen ist eine Besonderheit in Halle. Eine Vielzahl von Einrichtungen der Medizinischen Fakultät
    arbeiten im Muskelzentrum eng zusammen: die Kliniken für Neurologie, für Kinderheilkunde, für Orthopädie, für Herz- und Thoraxchirurgie und für Augenheilkunde, das Institut für Humangenetik und medizinische Biologie sowie der Lehrstuhl für kardiologische Intensivmedizin. Diese umfassende Kooperation garantiert den größtmöglichen Ausschluss von Fehlern. Man kann die einzelnen Befunde an Ort und Stelle überprüfen und miteinander vergleichen, ohne dass die Patienten von einer Klinik in die andere (oft sogar von einem Ort zum anderen) verlegt werden müssen.
    Komplettiert wird dieses vielgleisige Herangehen durch die Einführung der Nahen-InfrarotSpektroskopie, einer neuen Methode zur Untersuchung der Mitochondrienfunktion in der Skelettmuskulatur der Patienten. Sie erlaubt die Feststellung von mitochondrialen Defekten, ohne dass dazu operativ eine Muskelprobe entnommen werden müsste. In einer Pilotstudie konnte an der neurologischen Klinik der Nachweis geführt werden, dass die NIRS einen wertvollen Beitrag zur Diagnostik der mitochondrialen Defekte liefern kann.
    In diesem Sinne versteht sich die Tagung als gemeinsames Forum für Theorie und klinische Forschung, um Ergebnisse auszutauschen und so einen Beitrag zur Entwicklung der mitochondrialen Medizin zu leisten. Sie ist auch gleichzeitig die erste wissenschaftliche Konferenz des MITONET (http://www.kms.mhn.de/mitonet) einer Vereinigung von betroffenen Patienten, behandelnden Ärzten und Wissenschaftlern mit dem Ziel der Information über mitochondriale Erkrankungen und der Zusammenarbeit zwischen klinischer Praxis und Forschung.

    Dr. Monika Lindner

    Ansprechpartner:
    Tagungsorganisation:
    Priv. Doz. Dr. Frank Norbert Gellerich
    Tel.: 0345/557 3628
    Fax: 0345/557 3505
    E-Mail: frank.gellerich@medizin.uni-halle.de

    Direktor der Neurologischen Klinik:
    Prof. Dr. Stephan Zierz
    Tel.: 0345/557 2858/57
    Fax: 0345/557 2800
    E-Mail: sekretariat.neurologie@medizin.uni-halle.de


    Weitere Informationen:

    http://www.kms.mhn.de/mitonet/halle.htm


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Chemie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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