idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
31.01.2007 08:35

Zwangsvorsorge-Untersuchungen sind der falsche Weg

Prof. Dr. med. Johannes Forster, Dt. Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. AWMF Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

    Misshandlung von Säuglingen und Kleinkindern - Zwangsvorsorge-Untersuchungen sind der falsche Weg. Wirksame Vorbeugung sollte auf gezielte Fürsorge für Risikofamilien setzen.

    Im Jahr 2006 hat der Tod von Kindern durch Vernachlässigung, Misshandlung und unterbliebene Fürsorge für großes Aufsehen gesorgt. Lösungen werden gesucht, solche Ereignisse zu verhindern. Ein Vorschlag lautet, Kindervorsorge-Untersuchungen verpflichtend einzuführen und damit Fälle von Kindesmisshandlung oder Vernachlässigung zu erkennen.

    Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin (DNEbM) nimmt hierzu folgendermaßen Stellung:

    * Das Ziel, die Zahl von Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung zu vermindern, wird vom DNEbM ausdrücklich unterstützt.
    * Es gibt jedoch keinen Beleg dafür, dass ein Zwang zu Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt eine wirksame Vorbeugung gegen Vernachlässigung oder Gewalt gegen Kinder ist.
    * Solche eindeutigen Belege gibt es hingegen für die aufsuchende Fürsorge von Hochrisikofamilien durch ausgebildetes Personal.
    * Es gibt keinen Grund, eine unbelegte und möglicherweise wirkungslose Zwangsvorsorge einzuführen, wenn es eine nachgewiesenermaßen wirksame Alternative gibt.
    * Möglichst lückenlose Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern sind wünschenswert, aber nicht um Vernachlässigung, sondern um sich anbahnende medizinische Defizite zu erkennen und entsprechende Gegenschritte zu veranlassen.


    Erläuterung:
    In der Frage, mit welchen Methoden Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung vorgebeugt werden kann, gibt es eine ansehnliche Basis wissenschaftlicher Untersuchungen. Belgische Wissenschaftler haben im Jahr 2004 eine Analyse der internationalen Studien vorgelegt, in denen Frühprävention durch Aufsuchen von Hochrisikofamilien untersucht wurde. Diese Programme zeigten einen signifikanten Rückgang der Vernachlässigung von und der Gewalt gegen Säuglinge und Kinder durch diese Maßnahme.
    Solche Belege fehlen aber für die Wirkung von Zwangsuntersuchungen. Keine Untersuchung oder Studien zeigt, dass mit einer Zwangs-Vorsorgeuntersuchung Vernachlässigungen und/oder Misshandlungen von Säuglingen und Kleinkindern vorgebeugt werden könnte. Das wäre auch nicht zu erwarten. Gegen Zwangsuntersuchungen spricht nämlich, dass misshandelnde oder vernachlässigende Eltern häufiger den Arzt wechseln, so dass ein einzelner Arzt sich kein solides Bild machen oder einen langjährigen Patienten-Arzt-Kontakt aufbauen kann. Dies wäre zur Entdeckung von Vernachlässigung von oder Gewalt gegen Kinder jedoch notwendig.
    Der politischen Forderung, Zwangsuntersuchungen zur Eindämmung von Misshandlung und Vernachlässigung einzuführen, fehlt also nicht nur ein Beweis oder zumindest Hinweis auf einen Nutzen für die Kinder. Der Vorschlag lässt auch mögliche "Nebenwirkungen" außer Acht. Die Vorsorgeuntersuchungen für Kinder werden heute von über 90 Prozent der Eltern akzeptiert. Diese Eltern bringen ihre Kinder zum Kinderarzt, weil sie ihm und seiner Kompetenz vertrauen, Entwicklungsdefizite rechtzeitig zu erkennen und betroffene Kinder optimal zu fördern. Dieses bei über 90% der deutschen Eltern bestehende Vertrauen ginge verloren gegenüber einem Kinderarzt, der einen staatlich verordneten "Misshandlungs-Check" durchführen müsste. Außerdem lenken Zwangsuntersuchungen von sinnvolleren Alternativen ab.

    Schlussfolgerung :
    Die Forderung, zwangsweise Vorsorgeuntersuchungen für Kindern einzuführen, ist der nicht ausreichend durchdachte Versuch, ein soziales Problem auf medizinischem Weg zu lösen. Nach den bislang vorliegenden Untersuchungen gibt es dafür keine Erfolgsgarantie. Vielmehr lenkt der Vorschlag von nachgewiesenermaßen wirksamen Maßnahmen ab.
    Das DNEbM befürwortet aufgrund der aktuellen internationalen wissenschaftlichen Literatur die aufsuchende Fürsorge in Hochrisikofamilien, um die Zahl der Misshandlungen und Vernachlässigungen von Säuglingen und Kleinkindern signifikant zu senken.


    Ansprechpartner:

    Prof. Dr. med. Johannes Forster, MME (Bern)
    - Mitglied des Vorstands des DNEbM -
    Kinderabteilung St. Hedwig
    St. Josefskrankenhaus
    Sautierstr. 1
    D-79104 Freiburg
    Tel. +49 (761) 2711-2800
    Email: Johannes.Forster@rkk-sjk.de



    Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierter Medizin (DNEbM e.V.) wurde im Jahr 2000 gegründet. Mitglieder sind Ärzte und Wissenschaftler zahlreicher Fach- und Forschungsrichtungen, die Konzepte und Methoden evidenzbasierter Medizin (EbM) in klinischer Praxis, Lehre und Forschung anwenden und weiter entwickeln. Zur evidenzbasierten Medizin gehört, Vor- und Nachteile medizinischer Verfahren unvoreingenommen zu recherchieren und Patienten und Öffentlichkeit objektiv über diese Ergebnisse zu informieren.
    Weitergehende Informationen unter http://www.dnebm.de


    Weitere Informationen:

    http://www.dnebm.de Deutsches Netzwerk Evidenzbasierte Medizin


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Pädagogik / Bildung
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).