Über die geistige und lokale Heimatlosigkeit des verkannten Denkers
Jena (18.04.00) Heimatlosigkeit ist bei Friedrich Nietzsche mehr als eine Wohn- oder Denkform. Der staatenlose Philosoph (1844-1900) verknüpft das Lokale mit der Imagination und schafft sich eine Geographie der Philosophie, die sein Leben und Werk prägen. Dies hat jetzt Stephan Günzel in seiner - bisher noch unveröffentlichten - Dissertation, die von Prof. Dr. Wolfgang Welsch am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena betreut wird, ausgeführt.
Die Arbeit, die durch einen Werkvertrag von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert wurde, erkundet das geoklimatische Denken und die metaphorische Kartographie des Philosophen. Dazu durchforstete der 29-jährige Nachwuchswissenschaftler nicht nur Nietzsches Werke und die Sekundärliteratur, sondern untersuchte auch Nietzsches geographische Schulbildung, die im Studium erlangten Grundlagen und die geographischen Werke, die der philosophische Nomade nutzte.
Die Übertragung von realer Geographie auf Nietzsches Denken hält Günzel "für zulässig", da es "konform geht mit Nietzsches eigener Auffassung von Sprache". Nach der Sprachkonzeption des Philosophen reden wir bereits in Metaphern. Damit wird die Sprache zwar wie ein Netz über die Welt geworfen, kann aber nie mit ihr identisch sein. "Die Sprache hat deshalb etwas von einer geographischen Karte, welche die Welt nicht repräsentieren kann, sondern allenfalls eine Orientierung in ihr ermöglicht", erläutert Günzel den geophilosophischen Sprachentwurf Nietzsches. "Dieser greift auf die vor allem geographischen Metaphern der Metaphysik 'seismographisch' zu und versucht, die bisher in der philosophischen Kartographie des europäischen Denkens erfolgten Orientierungsvorgaben zu ändern".
Friedrich Nietzsche, der vor 100 Jahren in Weimar starb, ist ein vielgestaltiger, ambivalenter Mensch, dessen Denken und Ideale zum Teil drastischen Veränderungen unterliegen. "Er befand sich in einer von ihm nie abgeschlossenen Bewegung", befindet Günzel, "dies wird auch durch die von ihm bevorzugte Schreibform des Aphorismus deutlich".
Dennoch bleiben Grundzüge bei Nietzsche durchgängig erkennbar. Hierzu zählen die Landschaftsbeschreibungen. "Seine Metaphern sind kein Beiwerk, sondern bewusste Ausdrucksmittel an Stellen, an denen Argumentation sonst nicht hinreichend wäre", stellt der Jenaer Doktorand heraus. "Besonders häufig entstammen die Metaphern dem Bereich der Landschaft oder des Geographischen", hat Günzel herausgefunden. Während die Forschung bisher nur die Übertragung der Metaphern ins Denken beleuchtet hat, geht der Jenaer Jungphilosoph erstmals den Quellen und der direkten Bedeutung der Geographie nach.
"Nietzsche setzt Landschaft philosophisch ein, um Kritik an anderen Philosophen und (geistigen) Regionen zu äußern," lautet eine These Günzels. Dies geschieht aber nicht explizit, sondern durch die Platzierung der Landschaftsmetaphern in einem Gegensatz zu beispielsweise Platon oder Kant. In Nietzsches Werk "Also sprach Zarathustra" will der Wanderer gemeinsam mit der Sonne untergehen. Die Himmelskugel unterliegt bei Nietzsche Veränderungen und ist nicht länger die konstante, unendliche Größe, die sie etwa bei Platon ist, erläutert Günzel an einem Beispiel.
Nietzsche erlebt Landschaft intensiv während seiner steten Wanderjahre zwischen Basel und Italien. Dabei wollte der Philosoph immer viel südlicher leben als es sein angegriffener Gesundheitszustand erlaubte. Doch nicht nur der Wunsch nach Wärme steckte hinter diesem Begehren. "'Klima' wird von Nietzsche nicht mehr nur als eine natürliche Tatsache angesehen, sondern im Sinne eines 'kulturellen Klimas' betrachtet", sagt Günzel. Dabei steht im klimatologischen Ansatz selbst des modernen Philosophen Europa im Mittelpunkt. Er gebärdet sich auch kolonialistisch, strebt andererseits danach, eine Außenperspektive auf die Welt - oder zumindest den für ihn zentralen Kulturraum Europa - zu werfen, um Kritik an der eigenen Kultur üben zu können. Doch so, wie seine Figuren die Begrenzung selbst dann erleben, wenn sie die höchsten Gipfel erklimmen, so zentriert auch der Philosoph sein Denken auf Europa - obwohl er wenigstens weitere Kulturzonen, die sich nach seiner Vorstellung auf Grund anderer Klimabedingungen entwickelt haben, zur Kenntnis nimmt.
"Nietzsches klimatisches Kulturmodell tendiert dazu, eine globale Klimatisierung anzudenken, an welche sich andere Kulturklimate anzupassen hätten", beschreibt Günzel. Obwohl Nietzsche sich weiter nach außen wagt als viele seiner Zeitgenossen - sichtbar beispielsweise an der freiwilligen Aufgabe seiner Professur in Basel - so schwankt er zwischen dem Streben nach und der Aufgabe von Fixpunkten. Letztlich hilft ihm die Geographie - als Mensch und Philosoph.
Friedrich-Schiller-Universität
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Geowissenschaften, Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Religion, Sprache / Literatur
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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