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20.04.2000 09:28

Thüringer Mundart-Wörterbuch: Zwischen Abendbrot und Nachtsuppe

Dr. Wolfgang Hirsch Abteilung Hochschulkommunikation/Bereich Presse und Information
Friedrich-Schiller-Universität Jena

    Jena (20.04.00) Den vierten Band des Thüringischen Wörterbuchs haben Sprachwissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität nun vorgelegt. Damit steht eines der ältesten Forschungsgroßprojekte in der Thüringer Forschungslandschaft - seit 1907 - kurz vor dem Abschluss. "In fünf bis sieben Jahren sind wir sicher fertig", schätzt Mundart-Forscher Dr. Wolfgang Lösch, der Leiter der Arbeitsstelle. Der Band von A bis D umfasst rund 13.000 Wortartikel, zahlreiche Wortkarten und Abbildungen; er ist im Berliner Akademie-Verlag erschienen. Mit Hochdruck arbeiten die Jenaer Dialektologen nun an den ausstehenden Wortstrecken von E bis K.

    Buchstäblich dem Volk aufs Maul gesehen haben die Wissenschaftler und festgestellt, dass Mundart im Thüringischen Sprachraum recht uneinheitlich gesprochen wird. Für den Laien anschaulich werden die Un-terschiede etwa an Hand der Wortkarte für "Abendbrot". Würde etwa der Stadtrodaer mit "Oombru-ut hummer speete jejassen" den verspäteten Termin für die letzte Tagesmahlzeit kommentieren, so spricht der Schleizer lieber von der "Nachtsuppe". Jenseits des Rennsteigs trifft man sich zum "Abendessen", im Bad Salzunger Raum zum "Nachtessen", im Eichsfeld hält man ein "Nachtbrot".

    Außer den offensichtlichen lexikalischen Differenzen untersuchen die Forscher aber auch die Lautunterschiede: Heißt der freistehende Handfinger im Osten des Landes mundartlich "Daumel" oder "Daum(n)" mit Doppelselbstlaut, so sagt der Mittelthüringer "Dume", "Dumel" oder "Dum(n)" mit langem Vokal und liegt damit näher am mittelhochdeutschen Ursprung.

    Mitten durchs Land verläuft zwischen Erfurt und Weimar in Nord-Süd-Richtung diese Diphthongierungslinie, die sich durch eine parallele Monophthongierungslinie als echte Lautgrenze bestätigt: Sagt der mundarttüchtige Ostthüringer mit Einlaut lieber "Steen" oder "heeß", so bildet man im Westen hier eher den Doppellaut zu "Stein" und "heiß". Insgesamt neun thüringische Sprach-räu-me haben die Jenaer Dialektologen ausgemacht.

    Eine Sprachgrenze trennt auch den Norden vom Süden, wo man die Egge "treckt" und nicht "zerrt" oder die Sense "kloppt" statt "dengelt". Überdies bildet der Rennsteig eine schier unüberwindliche Sprachbarriere. Südlich des Gebirgszuges pflegen die Menschen einen ostfränkischen, also oberdeutschen Zungenschlag, nördlich davon sind sie in der ostmitteldeutschen Sprecherfamilie verwurzelt. Für manchen Schmalkalder oder Meininger fängt ja bekanntlich hinter dem Rennsteig schon Sachsen an. "Gegen diese Vereinnahmung würde sich der Weimarer oder Holzländer Bürger natürlich wehren", schmunzelt Dialektforscher Dr. Wolfgang Lösch, "aber in der Tat sind Ostthüringer von Obersachsen manchmal nicht ganz einfach zu unterscheiden."

    Häufig wird der gewiefte Sprachwissenschaftler um Gutachten gebeten, etwa zum mundartlichen "Asterix"-Comicband "Cäsar sinn Jeschenke" - im nicht ganz lupenreinen Sondershäuser Dialekt - oder über Stefan Raabs "Maschendrahtzaun"-Rapsong. Sein Hauptaugenmerk aber richtet der 58-jährige gebürtige Hildburghäuser, der schon als Philologie-Student als wandelnde Quelle der Dialektforschung auffiel, aufs Thüringische Wörterbuch. Seit 1975 ist er Mitglied der Jenaer Arbeitsstelle, seit 1989 in der Nachfolge Dr. Karl Spangenbergs ihr Leiter. Wie einen Nibelungenort hütet er die säuberlich in Karteikästen sortierten Myriaden von Wortbelegen, die Wissenschaftler seit den fünfziger Jahren mit Fragebögen und Tonbändern akribisch vor Ort einsammelten. Erst mit der Wende zog die moderne Computertechnik ein.

    Mit ihrer dialektgeographischen Feldforschung haben mehrere Jenaer Forschergenerationen ein engmaschiges Netz über 2.500 Orte gezogen. Vergleichende Detailstudien zu einzelnen Regionen, etwa zu 1.000 Wörtern im Jenaer, Eisenberger und Saale-Holzland-Raum, ergänzen das Projekt. "Die sprachliche Erfassung betrifft das ganze Leben in der Region", erklärt Wolfgang Lösch, Unterschiede bemerkt man vor allem in landwirtschaftlichen Wortfeldkomplexen. Jetzt geht es "nur noch" ums Auswerten.

    Dabei hält sich Lösch mit wertenden Äußerungen sehr zurück. Wie wandelbar das Ansehen einer Dialektform im Lauf der Geschichte ist, belegt er etwa am Sächsischen: Im 18. Jahrhundert war die samtene ostmitteldeutsche Lautbildung - mit Dresden als Mittelpunkt barocker Kulturblüte - noch höchlichst angesehen, heute hat sie längst das Schwäbische am unteren Ende der gesamtdeutschen Beliebtheitsskala abgelöst. So etwas hatte natürlich keineswegs ästhetische, sondern politische und wirtschaftliche Ursachen, erklärt Lösch, der Wandel ging mit der Verlagerung der Machtzentren von der Elbmetropole ins preußische Berlin im 18. und 19. Jahrhundert einher.

    Dialektforschung, so Lösch, dürfe man getrost als ernsthafte philologische und kulturhistorische Wissenschaft betrachten, für die sich neben Linguisten und Volkskundlern auch Historiker und Pädagogen interessieren. Schließlich besitzen Dialekte unbestritten eine kulturelle und identitätsstiftende Funktion. Dass der Mundart-Archivar und sein Team mit dem Thüringischen Wörterbuch eine unschätzbare Quelle für spätere Forschergenerationen anlegen, ist ihnen durchaus bewusst. Denn regionale Dialekte befinden sich im Zeitalter des "globalen Dorfes" auf dem Rückzug. "In Zentralthüringen", beklagt Lösch, "wird kaum noch Mundart gesprochen."

    Ansprechpartner:
    Doz. Dr. Wolfgang Lösch
    Arbeitsstelle Thüringisches Wörterbuch der Friedrich-Schiller-Universität Jena
    Tel.: 03641/944344
    Fax 944349
    E-Mail: x8lowo@rz.uni-jena.de

    Friedrich-Schiller-Universität
    Referat Öffentlichkeitsarbeit
    Dr. Wolfgang Hirsch
    Fürstengraben 1
    07743 Jena
    Tel.: 03641/931031
    Fax: 03641/931032
    E-Mail: h7wohi@sokrates.verwaltung.uni-jena.de


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    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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