Die Zeit ist für viele Menschen zu einer bedrängenden Macht geworden: Mal ist sie zu knapp, mal zu reichlich vorhanden. Stress und Langeweile - in diesen beiden Extremen stellt sich die Zeitnot vieler Menschen dar. Ein Projekt an der Universität Würzburg fragt deshalb nach dem rechten Umgang mit der Zeit aus theologisch-ethischer Sicht.
Nach Ansicht von Prof. Dr. Stephan Ernst vom Lehrstuhl für Moraltheologie, dessen Projekt von der Fritz Thyssen-Stiftung (Köln) gefördert wird, führt die Zeitnot der Menschen dazu, dass sie sich um die Möglichkeit betrogen sehen, sich in der Zeit ihres Lebens selbst verwirklichen zu können. Sie sehen sich um das kostbarste Gut ihres Lebens betrogen: die Lebenszeit selbst. Die häufige Rede vom "neuen Versuch im nächsten Leben" oder die Sympathie für die Vorstellung von der Wiedergeburt verraten das ernst zu nehmende Leiden vieler Menschen an der ungelebten, verlorenen Zeit ihres Lebens.
Darum stellt sich für Prof. Ernst die Frage nach einer kritischen Überprüfung unseres Verhältnisses zur Zeit und nach Perspektiven für einen gewandelten Umgang mit ihr.
Dabei seien die Gründe für die gegenwärtige Zeitnot kultur- und geisteswissenschaftlich sowie soziologisch und psychologisch bereits weitgehend bearbeitet. Sie liegen - beginnend mit dem Aufkommen der Räderuhren im 14. Jahrhundert - in der zunehmenden Vergegenständlichung der Zeit und der damit verbundenen Vorstellung, die Zeit einteilen, verplanen, ausnutzen, kurz: beherrschen zu können. Zugleich lieferte das blühende Wirtschaftsleben im Europa der Neuzeit die Grundlage dafür, dass die Zeit auch als Wirtschaftsfaktor betrachtet wird. Beides zusammen führt, so Prof. Ernst, zu jener ungeheuren Beschleunigung des gesamten Lebens, die sich heute durch die modernen Informations- und Kommunikationssysteme zu einer Dauerverfügbarkeit und universalen Gleichzeitigkeit aller Dinge und Ereignisse steigere und die Erfahrung der Zeit auf die reine Gegenwart reduziere.
Je mehr diese Strukturen der Zeiterfahrung Gestalt gewinnen, um so drängender tauche der Wunsch nach mehr selbst bestimmter Zeit, nach "Eigenzeit" auf.
Zugleich gebe es eine Fülle von Strategien und Ratschlägen, wie sich Zeit organisieren und menschlich gestalten lässt: auf politischer Ebene etwa durch innovative Arbeitszeitregelungen, auf individueller Ebene durch persönliches Zeitmanagement oder das Beachten der eigenen Biorhythmen.
Prof. Ernst: "Aus Sicht der theologischen Ethik gilt es, die Frage nach der Gültigkeit und Angemessenheit solcher Ratschläge zu diskutieren." Ziel seines Projektes ist es, den Begriff "Eigenzeit" auf der Ebene einer anthropologischen Gesamtschau zu durchdenken. Dabei müssten neben den humanwissenschaftlichen auch die philosophischen Aussagen zum Wesen der Zeit, zum Zusammenhang von Zeit und Identität sowie die Bedeutung der Religion und des christlichen Glaubens für den Umgang mit der Zeit einbezogen werden.
Es werde hierbei um eine fundamentale Umkehr im Grundverständnis des Zeitbegriffs gehen, in der die Zeit nicht mehr primär als messbarer und handhabbarer Gegenstand aufgefasst wird, sondern als eigene, unhintergehbare Lebenszeit, die gerade dann, wenn der Mensch die Zeit wie einen Gegenstand misst und verplant, hinter seinem Rücken verrinnt und Gestalt gewinnt.
Auf der Grundlage einer solchen Betrachtung schließlich nach Konsequenzen für einen Umgang mit der Zeit und ihre menschliche Gestaltung sowohl auf der Handlungs- als auch auf der Haltungsebene zu fragen: Vorhandene Empfehlungen und Strategien für den rechten Umgang mit der Zeit seien zu überprüfen und einzuordnen. Außerdem wären entsprechende Aufgaben zu formulieren, die der bewussten, willentlichen Gestaltung und der ethischen Lebensführung des Einzelnen im Sinne einer "Kunst des Lebens" bedürfen und die der Mensch in der "Zeitvergessenheit unserer Zeit" erst wieder mühsam erlernen müsse.
Weitere Informationen: Prof. Dr. Stephan Ernst, T (0931) 31-2261, Fax (0931) 31-2673, E-Mail:
stephan.ernst@mail.uni-wuerzburg.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Religion
überregional
Forschungsprojekte
Deutsch
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