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22.05.2000 10:58

Ein Rückblick auf sechzig Semester an der TU Clausthal

Jochen Brinkmann Kontaktstelle Schule - Universität
Technische Universität Clausthal

    Professor Dr. Georg Müller blickte anläßlich der Vorstellung und Übergabe seines Buches "Der Lehrkörper der TU Clausthal und der Bergakademie Clausthal sowie ihrer Vorläufer 1775 - 1999" (http://idw.tu-clausthal.de/public/zeige_pm.html?pmid=21001 ) am Freitag, den 20. Mai in der Aula auf dreißig clausthaler Jahre zurück.

    1955 aus sowjetischer Gefangenschaft nach Westdeutschland gekommen, legte Georg Müller im zweiten Spätheimkehrerlehrergang 1956/57 in Göttingen, kurzerhand aus dem Präsidialetat des Bundespräsidenten Heuss finanziert, sein Abitur ab. "Meine Kameraden und ich blicken dankbar auf diese Hilfe zurück."

    Die Hilfe der Frauen: "Unendlich viel verdanke ich meiner Schwiegermutter, die mich sehr herzlich in ihre Familie aufnahm und wieder an normale Lebensverhältnisse in einer intakten Familie heranführte. Außerordentlich dankbar bin ich meiner lieben Frau Ute, die in Liebe und tiefem Zutrauen nur drei Wochen nach meinem Abitur mit mir die Ehe einging. Aus dem Krieg sind mir bis heute Granatsplitter verblieben, die Gefangenschaft hatte zu Mangelschäden geführt und seelisch war ich zerrüttet. Meine liebe Frau hat mich wider aufgebaut und auf einen bürgerlichen Lebensweg geführt.

    Im April 1970 kam Professor Dr. Georg Müller als Petrologe an die, gerade zwei Jahre alte, TU Clausthal. "Im Hauptgebäude herrschte drangvolle Enge. Hier waren das Rektorat, die Verwaltung, die Mathematik, das Metallhüttenwesen, die Geologie, Mineralogie, Geophysik, Physikalische Chemie, Wirtschaftswissenschaften und das Bergrecht untergebracht. Die Flure waren zu beiden Seiten voll Schränke gestellt, die im Falle einer Brand- und Rauchentwicklung die Fluchtwege behindert hätten.

    Neue Fächer zogen ein, die alte "Bergakademie" wurde zurückgedrängt. Der emotionale Habitus änderte sich: "Ihr familiärer Charakter ging mit dem Wachstum zwangsläufig verloren. Man schätzte oder haßte sich gegenseitig nicht mehr. Es setzte sich zunehmend ein unpersönlicher Umgangsstil durch, und es entstanden nun keine neuen Duzfeindschaften mehr. Die Ordinarien der alten Bergakademie waren Ehrenmänner im Sinne der in zwei verheerenden Kriegen untergegangenen bürgerlichen Gesellschaft vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Ihr Wort galt mehr als bürokratische Regelungen. Darüber hinaus herrschte Corpsgeist. Als ich zum ersten Male Vorexamensprüfungen angehalten hatte, rief mich abends im Büro der Kollege Dorstewitz an und sagte mir: " Herr Kollege, Sie haben den Studenten X durchfallen lassen. Würden Sie die Güte haben, das Prüfungsergebnis zu überdenken. Der Junge ist nämlich der Sohn von Bergwerksdirektor X auf der Schachtanlage Y. Der aber ist ein bedeutender Förderer unserer Hochschule. Tatsächlich war X-Junior schon bei meinem Amtsvorgänger durchgefallen, und jetzt wurde der sogenannte Ministerschwanz anhängig. Er ist auch zum dritten Male durchgerasselt und ein guter Versicherungsvertreter geworden. Ab und zu habe ich den heute "Verharzten" mit seinen Kindern getroffen, und er vermittelte mir auch ohne akademischen Titel einen zufriedenen Eindruck."

    Es war die Zeit der großen Erdöl- und Erdgasexplorationen, die Zahl der Studenten der Geolologie wuchs beständig. Professor Müller hielt wöchentlich neunzehn Wochenstunden Vorlesung und Praktika ab. Forschungsvorhaben in Norwegen und Brasilien, eine Vielzahl kreativer Diplomanden und Doktoranden. Im Jahr 1974 konnte Georg Müller drei Kandidaten erfolgreich in die Habilitation begleiten.

    Die Hochschulpolitik der 70ziger: " Im Jahre 1978 bescherte uns der niedersächsische Gesetzgeber mit dem neuen Hochschulgesetz eine Büchse der Pandora. Der größte Teil er Planstellen wissenschaftlicher Assistenten, die bis dahin mit Promovierten zu besetzen waren, wurde abgewertet. Ich hatte mir stets promovierte Assistenten von anderen Hochschulen geholt, um neue Ideen in das Institut zu bringen und Inzucht zu vermeiden, doch jetzt mußten Doktoranden die abgewerteten Stellen als Angestellte besetzen und erhielten auch nur noch 70% der BAT-Vergütung. Des weiteren wurde ohne Ansehen und Leistungsbewertung alle außerplanmäßigen Professoren aus Dozentenplanstellen in C 3 - Professuren, jedoch die aus der Akademischen Ratslaufbahn oder Oberassistentenstellen in C 2-Professuren eingewiesen. Fatales Resultat dieser Aktion war eine sehr starke Schwächung des Mittelbaus und eine kolossale Erweiterung des Lehrdeputats mit der Aufblähung der Pflichtstundenzahlen in den Diplomstudiengängen bis weit über 100 Wochenstunden, die nun von den Studierenden nachzuweisen waren. Außerdem fühlten sich die in C2-Eingestuften ungerecht behandelt."

    Erste Sparbeschlüsse unter der Regierung Ernst Albrechts führten zu massiven Studentenprotesten. 6000 Studierende waren nach Hannover gekommen: "Als nach der Veranstaltung (40 Jahre niedersächsische Verfassung) der Empfang stattfand, blickten wir über die mit niedersächsischen Spezialitäten gefüllten Tische des Büffets durch die großen Scheiben der Lobby in die geöffneten Münder und verzerrten Gesichter der ihren Protest schreienden Studenten. Vielen Abgeordneten sah man ihre Beklommenheit an, und nie wieder bin ich bei ihnen als Universitätsrepräsentant derartig persona non grata gewesen, wie an diesem Tage."

    "Sehr dankbar gedenke ich der engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit im Rektorat mit meinem hoch angesehenen Kollegen Hans-Walter Hennicke. Er war ein nachdenklicher, mifühlender Mensch, geprägt durch sein Kriegserleben und eine lange Gefangenschaft, immer bereit, andere anzuhören und zu helfen. Auf das engste und mit gleichen Empfindungenarbeiten wir beim Zerfall der DDR am Aufbau neuer Strukturen an der Bergakademie Freiberg zusammen. Starke Unterstützung fanden wir durch die Herren Kollegen Knissel und Marx. Als Herr Knissel im Sommersemester 93 schwer erkrankte und ich der Rektoratsverpflichtungen allein kaum noch Herr werden konnte, trat Herr Marx ohne jede Vorbereitung in das Rektoramt ein."

    Die ersten Vorbereitungen zum Erwerb des Kasernengeländes gehen auf das Jahr 1991, Müllers zweites Rektorat, zurück. Gemeinsam mit dem Kanzler, Dr. Kickartz, wurden die ersten sondierenden Gespräche geführt. Und ins 1990 reichen die ersten Impulse zum nun in diesem Sommer fertig werdenden Mensaneubau zurück.

    Die großen Veränderungen der letzten drei Jahrzehnte zeigten, die TU Clausthal sei kraftvoll und entwickele sich weiter. Prof. Dr. Müller: "Ich meine, und hierbei kann ich nur für die Wissenschaftler sprechen, daß noch in den siebziger Jahren der Gemeinschaftsakademie der Bergakademie, das gegenseitige Verstehen im Guten wie im Bösen und die unbedingte persönliche Identifikation der Professoren und Assistenten mit ihrer Hochschule in Clausthal vorherrschend waren. Dieses mentale Engagement leuchtet heute nur noch bei den Stiftungsfesten der Verbindungen auf. Mit dem Anwachsen der Hochschule und der Diversifizierung der Fächer ist dieser Gemeinschaftsgeist leider weitgehend verloren gegangen. Betrachten wir, meine Damen und Herren, die zukünftigen Entwicklungen unserer Hochschule gelassen. Viele Veränderungen sind gesund und notwendig, wenn wir Alten ihre Qualität auch nicht mehr erkennen. Allerdings sollte unsere Hochschule auch ein Ort der geistigen Bildung und theoretischen Wissenschaften bleiben und nicht zum reinen Dienstleistungsinstitut der Gesellschaft oder Industrie degenerieren."


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    fachunabhängig
    regional
    Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

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