idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
16.06.2000 00:00

Sexuelle Gewalt: Frauenärztinnen und Frauenärzte wollen ein Tabu brechen

Dipl. Biol. Barbara Ritzert Pressearbeit
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

    (München) Die weltweit umfangreichste Untersuchung von mehr als 3000 Opfern sexuellen Missbrauchs sowie die Ergebnisse einer Umfrage bei mehr als 1000 Frauen präsentieren Münchener Frauenärztinnen und Frauenärzte auf dem 53. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der zur Zeit in München stattfindet. Dabei diskutieren die Ärzte auch, wie sie betroffenen Frauen besser helfen können.

    "Frauenärztinnen und Frauenärzte müssen sich sexuell missbrauchter Mädchen und Frauen annehmen", fordert Professor Günther Kindermann, Direktor der I. Frauenklinik der Ludwig Maximilians-Universität München und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe. Um das Ausmaß des vielfach verschwiegenen und gesellschaftlich tabuisierten Leides öffentlich zu machen, das auch in der Frauenheilkunde bislang nur äußerst selten thematisiert wurde, präsentierten Dr. Ursula Peschers und Professor Günther Kindermann auf dem 53. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe in München erstmals die bislang weltweit größte Studie mit frauenärztlichen Untersuchungsergebnissen bei Opfern von Sexualdelikten.

    Erhoben wurden diese Daten an mehr als 3000 Mädchen und Frauen in den Jahren 1967 bis 1983 an der Universitätsfrauenklinik Berlin-Charlottenburg. An dieser Klinik, deren Direktor damals Kindermann war, wurden alle Opfer von Sexualdelikten, die Anzeige erstattet hatten, zentral untersucht.

    Mehr als die Hälfte der Opfer (56%) war jünger als 16 Jahre, jedes fünfte sogar jünger als 11 Jahre. Das jüngste Opfer war sechs Monate alt. 1,5 Prozent der betroffenen Frauen waren älter als 55. "Weder Jugend noch Alter", so Peschers, "schützt vor sexuellem Missbrauch."

    Tatort Familie

    Zwei Drittel der Opfer kannten den Täter, jedes fünfte war mit ihm verwandt: Täter waren Väter, Brüder, Onkel. "Diese Zahlen belegen", so Peschers, "dass sexuelle Gewalt am häufigsten innerhalb der Familie oder im näheren Bekanntenkreis vorkommt." Sexuelle Gewalt durch Fremde, in 39,5 Prozent der Fälle, war deutlich seltener.

    Knapp 70 Prozent der Frauen erstatteten binnen 24 Stunden Anzeige. Bei einem Viertel dauerte es eine Woche und länger. Darunter befinden sich häufig die Opfer von Langzeitmissbrauch. "Diese erstatten oft erst nach Jahren Anzeige", weiß Peschers. Entsprechend hoch - 40 Prozent - lag darum in dieser Gruppe der Anteil von Frauen, die mehrfach oder jahrelang missbraucht worden waren.

    Körperliche Verletzungen sind selten

    Bei zehn Prozent der Opfer diagnostizierten die Ärzte körperliche Verletzungen. Nur ein viertel der Frauen und Mädchen machten Angaben über aggressive Handlungen der Täter, am häufigsten (30 Prozent) waren Schläge. Die Opfer wurden aber auch mit Worten, durch Würgen, Festhalten oder mit Waffen bedroht. "Das Nichtvorhandensein von körperlichen Verletzungen", betont Peschers, "schließt darum eine Vergewaltigung nicht aus."

    "Frauenärztinnen und Frauenärzte haben täglich mit Frauen zu tun", erklärt Ursula Peschers, "die Opfer sexueller Gewalt sind." Die gynäkologische Untersuchung findet genau in der Körperzone statt, in der die Gewalt erlebt wurde. "Frauenärztinnen und Frauenärzte sollten sich daher nicht nur mit der korrekten Untersuchung nach Sexualdelikten auskennen, sondern wissen, dass sehr viele Frauen in ihrer Praxis Opfer sind oder gewesen sind", appelliert Peschers an ihre Kollegen. "Diesen Frauen sollten sie besonders sensibilisiert entgegentreten und ihnen Unterstützung anbieten."

    Unterstützung durch den Arzt erwünscht

    Dass diese Unterstützung durch ihre Frauenärztin oder ihren Frauenarzt von vielen Opfern gewünscht wird, bestätigt eine anonyme Umfrage bei mehr als tausend Patientinnen an der I. Frauenklinik der Universität München. Die Umfrage startete im Sommer 1999 und wurde im April 2000 abgeschlossen und ausgewertet.
    Auf die Frage: "Wurden Sie jemals zu sexuellen Aktivitäten gezwungen, die sie nicht durchführen wollten?" antworte jede fünfte, rund 20 Prozent, mit "ja". Ähnlich wie bei der Untersuchung an der Berliner Klinik kannten 70 Prozent der Opfer den Täter. Mehr als ein Drittel der Betroffenen würden gerne mit ihrem Arzt darüber sprechen, ein weiteres Drittel war sich nicht sicher. Doch von sich aus hatten nur fünf Prozent der Frauen ihren Arzt angesprochen. "Darum", so Dr. Katharina Jundt, "sollten Frauenärztinnen und Frauenärzte bei Verdachtsmomenten aktiv die Frau ansprechen, da offensichtlich Gesprächsbedarf besteht."

    Ein Trauma mit gesundheitlichen Langzeitfolgen

    Denn sexueller Missbrauch, Vergewaltigung oder langjährige sexuelle Gewalt in der Kindheit ist eine Traumatisierung mit gesundheitlichen Langzeitfolgen. "Die betroffenen Mädchen und Frauen empfinden nicht nur eine massive Bedrohung ihres Le-bens, sondern möglich ist auch die Zerstörung ihrer physischen und psychischen Integrität" erklärt die Frauenärztin Kornelia Schönfeld, die zur Zeit in Zagreb arbeitet. Direkte Folge ist eine posttraumatische Belastunggstörung. Auch der Körper reagiert mit gynäkologischen Erkrankungen und Störungen. "Darum", so Schönfeld, "sollte man sexuelle Gewalt bei gynäkologischen Störungen immer in Erwägung ziehen."

    Schönfeld präsentierte Leitlinien für die Diagnostik, die Gynäkologinnen und Gynäkologen dabei helfen, den Opfern von Sexualdelikten besser zu helfen. "Ziel ist", so Schönfeld, "dass die Frauen Hilflosigkeit und Scham abbauen, Lebensqualität gewinnen und langfristig gesund werden."

    Hilfsangebote durch die Polizei

    In München berät die erste Kriminalhauptkommisarin Christine Stettner seit 1989 fast ausschließlich weibliche erwachsene Opfer körperlicher und sexueller Gewalt. Bundesweit ist ihr Kommisariat 314 mit der polizeilichen Opferberatung einmalig, bei dem seit 1997 auch Männer beraten werden. Wie hoch der Bedarf ist belegt die steigende Nachfrage: 1997 erfolgten 2.750 Beratungen, im Jahr 1999 suchten 4.714 Menschen Hilfe. "Nichtanzeige schützt den Täter, nicht das Opfer", erklärt Stettner. Darum ist das Ziel der Beratung, den Betroffenen Informationen zur Anzeige zu liefern, ebenso bieten die Polizistinnen Aufklärung und Unterstützung, damit die Rechte der Opfer bei Strafverfahren gewahrt werden können. Darüber hinaus werden die Betroffenen auch an Beratungsstellen weitervermittelt.

    Doch die Polizei informiert und berät nicht nur Opfer, sondern auch Frauenärzte: Diesen stellt sie beispielsweise einen Untersuchungsbogen zur Verfügung, der den Ärztinnen und Ärzten die Untersuchung von Frauen nach einer Gewalttat erleichert, um Spuren der Tat so zu sichern, dass sie juristisch verwertbar sind.

    Auch Christine Stettner weiß aufgrund ihrer Erfahrung, dass "sexuelle Gewalt in erster Linie nicht durch den Unbekannten in der Tiefgarage, sondern meistens im häuslichen Bereich stattfindet." Die Zahl der angezeigten Vergewaltigungen, bzw. versuchter Vergewaltigungen in München schwanken zwar von Jahr zu Jahr, doch die Tendenz ist steigend - 1994 registrierten die Behörden 198 Fälle, 1999 aber schon 233 Fälle. Gesunken - von 124 im Jahr 1994 auf 95 im Jahr 1999 - ist hingegen die Zahl der Anzeigen wegen sexueller Nötigung.

    Bei Rückfragen:
    Prof. Dr. med. Günther Kindermann
    Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe
    I. Frauenklinik der LMU, Klinikum Innenstadt
    Maistraße 11
    80337 München
    Tel.: 089-5160-4203
    Fax: 089-5160-4143

    Dr. med. Katharina Jundt
    I. Frauenklinik der LMU
    Tel.: 089-5160-4111
    Fax: 089-5160-4131

    Dr. med. Ursula Peschers
    I. Frauenklinik der LMU
    80337 München
    Tel.: 089-5160-4590
    Fax: 089-5160-4166

    Christine Stettner
    1. Kriminalhauptkommissarin
    Kommisariat 314
    Ettstraße 2
    80333 München
    Tel.: 089-2910-2314
    Fax: 089-2910-4400

    Dr. Kornelia Schönfeld
    Vrhovec 18, 10000 Zagreb
    Kroatien
    Tel.: 0038-51-3775677
    Fax: 0038-51-3775677
    e-mail: kornelia_schoenf@hotmail.com


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).