Von der 13. Europäischen Konferenz zur Entwicklungspsychologie an der Universität Jena
Jena (22.08.07) Wenn Eltern ihre Kinder heranwachsen sehen, dann erleben sie täglich voll Freude und Stolz eine Vielzahl kleiner Fortschritte bei der Entwicklung ihrer Schützlinge. Der erste Schritt, das erste Wort, das erste selbst gemalte Bild - um solche Meilensteine auch Jahre später noch präzise datieren zu können, führen Eltern oftmals Tagebücher.
Auch der Physiologe William Thierry Preyer (1841-1897) notierte regelmäßig seine Beobachtungen. Er war der erste langjährige Ordinarius für Physiologie an der Universität in Jena - und er setzte nicht nur in diesem Fach Maßstäbe. Preyer entwickelte die Physiologie in Forschung und Lehre zu einem experimentell-wissenschaftlichen Fach weiter. Doch nicht nur seine "Specielle Physiologie des Embryo", sondern auch sein zweites Hauptwerk "Die Seele des Kindes" gilt bis zum heutigen Tage als vorbildlich.
"Es gibt gute Gründe, die ,Geburt' der wissenschaftlichen Kinderpsychologie auf das Erscheinen von Preyers Buch ,Die Seele des Kindes' im Jahre 1882 zu datieren", erläutert Prof. Dr. Werner Deutsch, Leiter der Abteilung Entwicklungspsychologie im Institut für Psychologie der Universität Braunschweig. In diesem Buch wertete Preyer Beobachtungen aus, die er im Verlauf der ersten drei Lebensjahre seines Sohnes in Form von Tagebuchnotizen zusammengetragen hatte - und das mit bemerkenswerter methodischer Sorgfalt. So wurde zum ersten Male ein Kind zum Gegenstand empirischer Forschung.
Die Grundlagen der modernen Entwicklungsphysiologie und -psychologie
Preyer verknüpfte seine präzisen entwicklungsphysiologischen Studien mit ebenso systematischen kinderpsychologischen Untersuchungen und schuf so die Grundlagen der modernen Entwicklungsphysiologie und -psychologie. Mit seinem Buch "Die Seele des Kindes" gilt er als "Vater" der Kinderpsychologie. Wenn heute die Psychologie als eine empirische Disziplin mit naturwissenschaftlichem Profil gilt, dann ist dies nicht zuletzt Preyers Verdienst.
Mit der Frage, ob und wie aus solchen Einzelfallbeschreibungen allgemeine Gesetzmäßigkeiten abgeleitet werden können, wird sich am 22. August ein Symposium der 13th European Conference on Developmental Psychology befassen. Diese bedeutendste Tagung der europäischen Entwicklungspsychologen wird vom 21.-27. August 2007 durch das Center for Applied Developmental Science (CADS) der Friedrich-Schiller-Universität Jena ausgerichtet.
"Unser Symposium wird diskutieren, wie die Entwicklungspsychologie durch die extensive Beobachtung von Kindern unter Einsatz von Tagebuchaufzeichnungen begründet wurde", erläutert Professor Deutsch, der dieses Symposium leitet. "Im Anfang war unsere Forschung ja eher fallorientiert, sie wurde dann aber zunehmend auf einen imaginären Durchschnitt bezogen. Wir fragen danach, wann und warum dieser Schritt vollzogen wurde - und welche Resultate uns das gebracht hat."
Zunächst wird der Leipziger Wissenschaftler Siegfried Hoppe-Graff in einem Vortrag aufzeigen, wie Preyer die Tagebuchmethode verwendete und wie sie seitdem weiterentwickelt wurde, insbesondere unter dem Einfluss von Clara und William Stern.
Langzeitstudie über die eigenen Kinder
Professor William Stern (1871-1938) hatte mit seiner Ehefrau Clara drei Kinder - Hilde, Günther und Eva. Das Ehepaar zeichnete von 1900 bis 1918 in Tagebuchform akribisch seine Beobachtungen über diese Kinder auf. Sterns Bücher "Die Kindersprache" (1907), "Erinnerung, Aussage und Lüge in der ersten Kindheit" (1908) sowie "Psychologie der frühen Kindheit bis zum sechsten Lebensjahr" (1914) basieren auf dieser Langzeitstudie.
Im zweiten Vortrag des Symposiums wird sich der Persönlichkeitspsychologe James T. Lamiell, Washington D. C., mit den philosophischen Überlegungen auseinandersetzen, die Sterns Beitrag zur Entwicklungspsychologie zugrundeliegen. "Es geht um die Frage: Wie gelangt man vom Einzelfall zur Erkenntnis", erklärt Deutsch. "Lamiell greift die Frage auf, wieso es überhaupt sinnvoll ist, bei Einzelfallstudien anzusetzen und wie davon ausgehend Verallgemeinerungen möglich sind."
Im dritten Vortrag diskutieren die Braunschweiger Psychologen Christliebe El Mogharbel und Werner Deutsch die Kenntnisse über die Entwicklung der Sprache bei Kindern - "und zwar den damaligen und den heutigen Stand", so Deutsch. "In seiner Beschäftigung mit der Sprachentwicklung war Stern übrigens der Erste, der Natur und Kultur nicht als Gegensatz, sondern als Partner sah, die aufeinander angewiesen sind."
In einem weiteren Vortrag skizziert Elfriede Billmann-Mahecha (Hannover) Veränderungen bei der Sicht von Psychologen auf das kindliche Zeichnen. "Das ist ein traditionelles Thema der europäischen Entwicklungspsychologie", sagt Deutsch. "Viele Jahre lang galt das Zeichnen als ein Instrument zur Diagnostik kindlicher Entwicklungsstörungen. Heute aber geht man davon aus, dass man damit maximal besonders kreative, künstlerisch begabte Kinder erkennen kann."
Es ist das Anliegen dieses Symposiums, im Rückblick auf die Geschichte dieser Wissenschaftsdisziplin wichtige Arbeitsmethoden der Entwicklungspsychologie kritisch zu hinterfragen, so Deutsch: "Was macht man heute anders als damals - und warum? Bringt uns das tatsächlich Fortschritte oder ist das eher dem Zeitgeist geschuldet? Und wie viel wissen wir heute mehr als Preyer und die Sterns?"
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Psychologie
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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