Nr. 268
Der Findling als Projektionsfläche
Reflexion über menschliche Verständigung
Im Mai 1828 tauchte in Nürnberg ein verwahrloster ca. 16-jähriger Junge auf, der kaum sprach: Kaspar Hauser. Seine Vorgeschichte war schon zu seinen Lebzeiten Gegenstand vieler Spekulationen, die durch seinen mysteriösen Tod durch einen Messerstich, den er sich möglicherweise selbst zugefügt hatte, noch angefacht wurden. Der Fall Kaspar Hauser interessierte nicht nur Kriminalisten, er faszinierte auch Schriftsteller und Filmemacher. Kaspar Hauser, der entwurzelte, heimat- und sprachlose Findling, wird zur Projektionsfläche für grundlegende Fragen über die Selbstverständigung des Menschen. Die verschiedenen Modelle legt Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans (Lehrstuhl für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der RUB) in ihrem Band "Fragen nach Kaspar Hauser. Entwürfe des Menschen, der Sprache und der Dichtung" dar. Das Buch ist im Verlag Königshausen und Neumann erschienen.
Immer wieder neue Figur mit dem Namen "Kaspar Hauser"
Gegenstand des Buchs ist nicht der historische Fall des Kaspar Hauser, sondern die Geschichte der Konstruktion einer Figur Namens "Kaspar Hauser", die seit der Auffindung des rätselumwitterten Nürnberger Findlings zur Projektionsfläche vielfältiger Bedeutungsentwürfe geworden ist. Die immer wieder neu konstruierte Figur mit dem Namen des Findlings dient - so die leitende Einsicht - der Reflexion über grundlegende Fragen, welche Sprachlichkeit sowie Kunst und Dichtung betreffen. Dieser Reflexionsprozess hält bis in die Gegenwart an. Literarische Texte, aber auch Filme, sind an ihm maßgeblich beteiligt.
Kaspar Hauser als Knotenpunkt
In die Geschichte der Erfindungen von Kaspar-Hauser-Gestalten sind vielfältige Imaginationen, Ideen und Erfahrungen eingeflossen; stets war dabei aber ein gewisser Grundbestand an "Wissen" über Hauser tragend. Darum eignet sich die Geschichte der Hauser-Figuren besonders gut als Navigationshilfe im weitläufigen Gelände der anthropologischen, sprachkritischen und ästhetischen Modellbildungen. Prof. Schmitz-Emans legt anhand der Geschichte literarischer Kaspar-Hauser-Figuren erstens die modernespezifische Ausprägung der Themen "Mensch", "Sprache" und "Dichtung" dar, und zweitens den funktionale Zusammenhang zwischen anthropologischer, sprachkritischer und ästhetischer Reflexion. Durch die Beobachtung dieses Funktionszusammenhangs unterscheidet sich das Buch von bereits existierenden Studien zur literarischen Figur Kaspar Hauser. "Es geht mir, bildlich gesagt, um Kaspar-Hauser-Figuren als Knotenpunkte komplizierter diskursiver Netze", erklärt Prof. Schmitz-Emans.
Unschärfe lädt zur Metaphernbildung ein
In den einzelnen Kapiteln widmet sich die Literaturwissenschaftlerin zum Beispiel dem Phänomen Kaspar Hauser als Metapher. Gerade die Unklarheiten um den Findling, die "Unschärfe" seines Bildes, wertet sie dabei als günstige Voraussetzung für dessen Verwandlung in eine polyfunktionale Metapher. Der Affinität von Kaspar Hauser-Figuren zum Themenkomplex "Sprache" geht sie in einem weiteren Kapitel nach. Ein Sonderkapitel in der literarischen und filmischen Geschichte des Falls Hauser erschließt sich über das Thema des Tagebuchschreibens. Schmitz-Emans legt dar, wie sich gerade mit der Fokussierung dieses Themas die Frage nach der "Identität" des Ichs und den Bedingungen ihrer Konstitution verbindet. Unter dem Titel "Kaspar als Fragezeichen oder: Etüden über das Fragen" geht ein Kapitel der Bedeutung nach, welche die Frage und das Fragen für die Literaturgeschichte Kaspar Hausers besitzen. Unter dem Leitwort "Poetische Kaspereien" stellt sie Kasperfiguren vor, die als Porträts des "Dichters" konzipiert sind. Ausführlich interpretiert sie die Kaspar-Gedichte Walter Höllerers und Peter Härtlings, in denen ein für die literarische Moderne charakteristischer Gestus des Nachdenkens über Poesie zum Ausdruck kommt.
Titelaufnahme
Monika Schmitz-Emans: Fragen nach Kaspar Hauser. Entwürfe des Menschen, der Sprache und der Dichtung. Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3651-4
Weitere Informationen
Prof. Dr. Monika Schmitz-Emans, Lehrstuhl Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum, Tel. 0234/32-22564, E-Mail: monika.schmitz-emans@rub.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Sprache / Literatur
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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