idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
30.06.2000 17:07

Seh- und Gleichgewichtssystem kooperieren im Gehirn

Dipl. Biol. Barbara Ritzert Pressearbeit
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

    Am 1. Juli 2000 erhält Professor Thomas Brandt, Direktor der Neurologischen Klinik am Klinikum Großhadern der Universität München, gemeinsam mit den Professoren Johannes Dichgans, Tübingen, und Hans-Joachim Freund, Düsseldorf, den mit 120.000 Mark dotierten ROBERT PFLEGER-PREIS. Die drei Neurologen und Hirnforscher werden für ihre grundlegenden Beiträge zur experimentellen und klinischen Neurologie gewürdigt. Die Auszeichnung gehört zu den am höchsten dotierten deutschen Forschungspreisen und wird alle zwei Jahre von der DOKTOR ROBERT PFLEGER-STIFTUNG in Bamberg verliehen.

    Ein mikroskopisch kleines, abgesprengtes Kalk-Körnchen, das den Bogengang des Gleichgewichtsorgans verstopft, kann die Welt um einen Menschen herum in Rotation versetzen: Ihm wird schwindelig, seine Augen beginnen zu zittern. Der so genannte anfallsartige Lagerungsschwindel ist die häufigste Form des von Ärzten "Vertigo" genannten breiten Spektrums unterschiedlicher Schwindelformen. Ein Drittel aller 70-jährigen Menschen erkranken mindestens einmal daran. Jeder fünfte Patient, der die Spezialambulanz für Schwindel am Münchener Klinikum Großhadern aufsucht, ist davon betroffen. Auslöser ist meist eine Lageveränderung des Kopfes, etwa beim Aufstehen, Hinlegen oder Umdrehen. Zwar verschwindet diese Störung in vielen Fällen von alleine wieder, doch immerhin 50 Prozent der Betroffenen leiden darunter länger als einen Monat, zehn Prozent sogar mindestens ein halbes Jahr. Dabei können Ärzte den Patienten in den meisten Fällen durch ein simples Lagerungsmanöver helfen, bei dem das Körnchen aus dem Bogengang wieder herausgeschleudert wird.

    Ein solches Manöver hat Professor Thomas Brandt von der Neurologischen Klinik am Klinikum Großhadern schon in den achtziger Jahren entwickelt. Doch warum diese Maßnahme funktioniert, konnte Brandt erst zehn Jahre später erklären - er stellte die Hypothese vom frei beweglichen Kalk-Körnchen auf, wodurch alle Symptome dieser Schwindelform sowie die Wirkung der Therapie erklärt werden konnten.

    Die Erforschung des komplizierten Gleichgewichtssystem des Menschen gehört zu den Hauptarbeitsgebieten von Brandt. Dieses System stellt sicher, dass wir die Körperbalance halten, uns im Raum orientieren und Eigenbewegungen wahrnehmen können. Darum erhält Brandt den Robert Pfleger-Preis 2000 "speziell für seine Arbeiten zum Vertigo (Schwindel) sowie zu entzündlichen Erkrankungen des Zentralnervensystems".
    "Schwindel" ist kein eigenständiges Krankheitsbild, sondern ein Symptom. Es zeigt an, dass an irgendeiner Stelle bei der Weiterleitung und Verarbeitung von Signalen aus dem Gleichgewichtsorgan eine Störung vorliegt - angefangen vom Gleichgewichtsorgan im Innenohr selbst, über die weiterleitenden Nervenbahnen, bis hin zu verschiedenen Gehirnregionen, wo diese Signale verarbeitet werden. Darum können etwa Störungen und Infektionen des Innenohres, Nervenentzündungen, Tumoren und Schlaganfälle Vertigo verursachen. Aber auch bei psychosomatischen Erkrankungen, etwa Panikattacken und Phobien, klagen Patienten oft über Schwindel.

    Wenn Neurologen auf den Hund kommen

    Tessa, die Golden Retriever-Hündin von Thomas Brandt, dürfte vermutlich der einzige Hund sein, der jemals im renommierten Medizinerblatt LANCET abgebildet wurde: In der Ausgabe vom 28. August 1999 beschreibt der Neurologe eine Beobachtung an seiner vierbeinigen Hausgenossin, die von seinem Team anschließend an Patienten und freiwilligen Versuchpersonen überprüft wurde. Resultat: Im Falle einer akuten einseitigen Störung des Gleichgewichtsorganes können Hund und Mensch beim schnellen Gehen oder Laufen besser die Balance halten als wenn sie vorsichtig Schritt vor Schritt setzen. "Die spricht dafür", erklärt Brandt, "dass Tier und Mensch beim Laufen offenbar ein Bewegungsmuster benutzen, das ausschließlich vom Rückenmark gesteuert wird. Demgegenüber erfolgt beim langsamen Gehen eine weitgehende Kontrolle der Bewegung und der Balance durch das Gleichgewichtssystem und das Sehen." Nun wollen die Wissenschaftler die Hierarchie der unterschiedlichen "Bewegungsgeneratoren" in Rückenmark, Hirnstamm, Klein- und Großhirn systematisch untersuchen.
    Wo in der Hirnrinde sitzt das Gleichgewichtszentrum?
    Bei Affen wissen die Forscher ziemlich genau, in welcher Region der Großhirnrinde die eintreffenden Signale des Gleichgewichtsorgans verarbeitet werden. Doch sind solche Erkenntnisse nicht einfach auf den Menschen übertragbar.

    Darum untersuchten Thomas Brandt und seine Mitarbeiter mit bildgebenden Verfahren (PET und fMRT) Patienten, bei denen ein Schlaganfall bestimmte Hirnregionen geschädigt hatte, Patienten mit beidseitigen Störungen des Gleichgewichtsorgans und gesunde Personen. Ergebnis: Eine bestimmte Region des Großhirns verarbeitet Signale, die vom Gleichgewichtsorgan kommen - allerdings nicht nur diese. Es ist "multisensorisch" ausgelegt, d.h. es verarbeitet auch bestimmte visuelle Sinneseindrücke. Das Areal befindet sich in der "hinteren Insel", die auf der Hirnoberfläche nicht sichtbar ist, da sie in einer Furche liegt. Die Region ist darüber hinaus mit dem Sehzentrum der Großhirnrinde, dem "visuellen Kortex", vernetzt.

    Bei ihren Forschungsarbeiten entdeckten die Münchener Neurologen einen neuen Mechanismus, wie Seh- und Gleichgewichtssystem bei der Wahrnehmung von Eigenbewegungen zusammenarbeiten. Die Systeme hemmen sich gegenseitig, abhängig davon, ob sich der Mensch selbst bewegt, oder ob die Bewegung bei gleichbleibender Geschwindigkeit, etwa im Auto oder im Zug stattfindet. Bewegt sich der Mensch selbst vorwärts, dominiert der Input des Gleichgewichtsorgans. Erfolgt die Bewegung passiv mit gleichförmiger Geschwindigkeit, dominiert der visuelle Input. "So werden Störreize und Fehlwahrnehmungen vermieden", erklärt Brandt.
    Solche Untersuchungen liefern jedoch nicht nur faszinierende Erkenntnisse über ein komplexes Sinnessystem. "Mit ihrer Hilfe", so Brandt, "wollen wir Störungsmuster identifizieren, die bei der Diagnostik von Schlaganfällen hilfreich sind und möglicherweise auch neue Therapieoptionen für die Rehabilitation eröffnen."

    Rückfragen an:
    Prof. Dr. med. Dr. h.c. Thomas Brandt FRCP
    Direktor der Neurologischen Universitätsklinik der LMU München
    Klinikum Großhadern
    Marchioninistraße 15
    81377 München
    Tel.: 089-7095-2570 (2571)
    Fax: 089- 7095-8883
    e-mail: tbrandt@brain.nefo.net.uni-muenchen.de


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
    überregional
    Forschungsergebnisse, Personalia
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).