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26.07.2000 10:49

Unternehmensrecht und europäischer Binnenmarkt

Robert Emmerich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Julius-Maximilians-Universität Würzburg

    Der europäische Binnenmarkt ist mit 16 Millionen Unternehmen und 370 Millionen Verbrauchern der weltweit größte Binnenmarkt. Mit den Herausforderungen, die dieser Markt an das Unternehmensrecht stellt, befassten sich die 6. Würzburger Europarechtstage, durchgeführt von der Juristischen Fakultät der Universität Würzburg am 30. Juni und 1. Juli 2000.

    Die Veranstalter konnten über 130 Teilnehmer - Vertreter der Wirtschaft, Anwälte, Richter, Notare, Wissenschaftler und Studierende - begrüßen. Unter dem Thema "Unternehmensrecht vor den Herausforderungen des europäischen Binnenmarktes" behandelten fünf Referenten arbeits-, sozial- und gesellschaftsrechtliche Themen mit Bezug zum europäischen Gemeinschaftsrecht.

    Dr. Hansjörg Geiger, Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz, wies auf die großen Herausforderungen hin, vor welchen die Europäische Gemeinschaft mit Blick auf die Ost-Erweiterung stehe. Damit müsse eine Reform der Institutionen einhergehen. So sollte aus Sicht der Bundesregierung das Prinzip der Einstimmigkeit überdacht und grundsätzlich durch Mehrheitsentscheidungen ersetzt werden.

    Für den Bereich des Strafrechts berichtete Dr. Geiger von der Idee, eine europäische Staatsanwaltschaftsbehörde zu schaffen. Auf dem Gebiet des Zivilrechts halte die Bundesregierung die Schaffung eines europäischen Zivilgesetzbuchs derzeit für Utopie. Um so wichtiger sei es daher, an einzelnen Harmonisierungen zu arbeiten, zum Beispiel an einem europäischen Vollstreckungstitel und am Vertrags- und Verbraucherschutzrecht.

    Prof. Dr. Meinhard Heinze (Universität Bonn) stellte die Entwicklung der europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik dar. Dem europäischen Normenbestand ließen sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt drei nicht harmonisierte Entwicklungsquellen einer europäischen Sozial- und Beschäftigungspolitik entnehmen. Dies sei zunächst das Subsidiaritätsprinzip. Die zweite wesentliche Rechtsquelle finde sich nach der Übernahme des Maastrichter Abkommens zur Sozialpolitik aus dem Jahre 1992 durch den Vertrag von Amsterdam in den Vorschriften über den sozialen Dialog. Die dritte und bedeutsamste Rechtsquelle sei das neu geschaffene Kapitel zur Beschäftigung. Die Mitgliedstaaten haben danach auf die Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie und auf die Förderung, Ausbildung und Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer hinzuarbeiten.
    Aus diesen drei Rechtsquellen ergebe sich ein Spannungsverhältnis von Subsidiaritätsprinzip, sozialem Dialog und beschäftigungspolitischen Aktionsprogrammen des europäischen Normgebers. Die Entwicklung der europäischen Sozialpolitik wird sich in diesem Spannungsfeld vollziehen, wobei der soziale Dialog - so die Prognose von Heinze - der Katalysator zwischen nationaler und europäischer Beschäftigungspolitik sein wird.

    Prof. Dr. Eberhard Eichenhofer (Universität Jena) referierte zum Thema "Binnenmarkt und social dumping". Der durch den Binnenmarkt verbundene Wettbewerb werfe die Frage auf, ob dieser Wettbewerb zu Lasten der sozial Schwachen gehe und ob die Absenkung der sozialen Schutzstandards der Preis für den Binnenmarkt sei. Zur Angleichung der sozialen Schutzstandards bedarf es nach Eichenhofer einer europäischen Sozialpolitik in Gestalt einer Rahmenordnung. Dies bedeute jedoch nicht die Schaffung eines umfassenden europäischen Wohlfahrtstaates. Vielmehr seien zur Verhinderung von "social dumping" einzelne Teilgebiete der Sozialpolitik, wie das Recht des Arbeits- und Gesundheitsschutzes, zu harmonisieren. Dem stünde auch das Subsidiaritätsprinzip nicht entgegen, da auf dem Feld der Sozialpolitik die Verhinderung von "social dumping" ein Tätigwerden der Gemeinschaft rechtfertige.

    Dr. Albrecht E.H. Schäfer, Justiziar der Siemens AG (München), stellte die "Erwartungen eines deutschen Großkonzerns an das europäische Gesellschaftsrecht" vor. Dr. Schäfer zeichnete zunächst die Vision eines gemeinschaftsweit tätigen Unternehmens, das über Zweigniederlassungen in ganz Europa tätig werde, ohne auf kostenträchtige Tochtergesellschaften angewiesen zu sein. Dafür komme es vornehmlich auf die gemeinsame Entwicklung der schon heute eng verzahnten Gebiete des Gesellschafts-, Kapitalmarkt und Steuerrechts an und weniger auf die Schaffung eines europäischen Einheitsrechts.

    Aus der Sicht eines deutschen Großkonzerns seien drei Teilprobleme dringend gemeinschaftsweit regelungsbedürftig: Es müssten erstens gleiche Rahmenvoraussetzungen für alle Unternehmen geschaffen werden. Dies betreffe vor allem das Bezugsrecht und den Bezugsrechtsausschluss sowie die Unternehmensübernahmen und die Vereinheitlichung der Rechnungslegungsstandards. Zweitens seien Regelungen für grenzüberschreitende Tatbestände zu schaffen, zum Beispiel das Konzernrecht, die grenzüberschreitende Sitzverlegung, die Mitbestimmung, die virtuelle Hauptversammlung sowie ein europaweites Handelsregister. Schließlich sei drittens über mehr Gestaltungsfreiheit, zum Beispiel für die Geschäftsordnung der Hauptversammlung oder die Regelung der Unternehmensstruktur, zu diskutieren. Die Regelung dieser drei Problemfelder sei aus der Sicht der Praxis dringender als die Schaffung einer einheitlichen Gesellschaftsform wie der Europäischen Aktiengesellschaft.

    Im Anschluss an diese "Wunschliste" sprach Prof. Karel van Hulle, Leiter der Abteilung Finanzinformation und Rechnungslegung sowie der Abteilung Gesellschaftsrecht der Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Brüssel), in seinem Referat "Aktuelle Entwicklungen im europäischen Gesellschaftsrecht" über die Realisierbarkeit der von der Unternehmenspraxis geforderten Regelungen aus der Sicht des europäischen Normgebers.

    Auf keinem anderen Rechtsgebiet des Privatrechts sei die Europäische Gemeinschaft als Gesetzgeber derart umfassend tätig geworden wie im Gesellschaftsrecht. Von fünfzehn geplanten Richtlinien seien neun in Kraft getreten, drei würden als Vorschlag und drei weitere als Entwurf bzw. Vorentwurf vorliegen. Hinzu kommen die Verordnung über die Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung, der Vorschlag über eine Verordnung über die Europäische Aktiengesellschaft mit dazugehörendem Richtlinienvorschlag zur Arbeitnehmermitbestimmung sowie drei weitere Vorschläge zu Verordnungen über europäische Gesellschaftsformen. Allerdings werde die Kommission in Zukunft wohl weniger Großprojekte wie das der Europäischen Aktiengesellschaft in Angriff nehmen. Vielmehr liege das besondere Augenmerk auf der Rechtsangleichung in einzelnen Teilbereichen des Gesellschaftsrechts.

    Van Hulle stellte dann einige der umstrittensten Punkte der kurz vor der Verabschiedung stehenden Übernahmerichtlinie vor, zum Beispiel die unterschiedlichen Ansichten der Mitgliedstaaten darüber, wann das für ein Pflichtangebot an die außenstehenden Aktionäre ausschlaggebende Merkmal der "Kontrolle" vorliegt. Da das Rechnungslegungsrecht zum Aufbau eines effektiven Kapitalmarkts in Europa immer wichtiger werde, stehe die Einführung der "International Accounting Standards" als einheitliche Rechnungslegungsstandards für Europa oben auf der Agenda. Verstärkt sollten Mitteilungen und Empfehlungen der Kommission als flexiblere Mittel zur Harmonisierung eingesetzt werden, um so zunächst den Wettbewerb der nationalen Regelungen - quasi als Druck von unten - zu ermöglichen, bevor der europäische Gesetzgeber tätig wird.

    Den Schlussvortrag hielt Prof. Dr. Volker Beuthien (Universität Marburg) zum Thema "Zur sozialen Funktion von Selbsthilfekooperationen in Europa". Beuthien skizzierte im Grenzbereich zwischen Gesellschafts-, Arbeits- und Sozialrecht das Modell eines sozio-ökonomischen Beschäftigungsunternehmens. Solche Unternehmen könnten dazu beitragen, die drängendsten Probleme unserer Zeit zu lösen, nämlich die Arbeitslosigkeit und die wachsende Ausgrenzung älterer und benachteiligter Menschen.

    Der Idee nach gründen insbesondere Langzeitarbeitslose ein Beschäftigungsunternehmen als Selbsthilfekooperation, geben sich damit selbst Arbeit und kehren zumindest in den "zweiten Arbeitsmarkt" zurück. Eine geeignete Gesellschaftsform für Arbeit beschaffende Selbsthilfekooperationen seien vornehmlich Genossenschaften, die es in nahezu allen Mitgliedstaaten gebe.

    Beuthien zeigte auf, dass nach wissenschaftlichen Studien die Bildung von genossenschaftlichen Selbsthilfekooperationen in anderen EG-Staaten eine positive beschäftigungspolitische Wirkung habe. In Deutschland sei hierfür eine flexiblere Gestaltung der internen Organisationsstruktur der eingetragenen Genossenschaft und Aufweichung der Satzungsstrenge erforderlich. Eine Begrenzung der Gewinnausschüttung durch verpflichtende Reinvestition des Überschusses in die Selbsthilfekooperation biete die Möglichkeit, als gemeinnützige Unternehmung mit steuerlichen Vorteilen anerkannt zu werden und erleichtere die Sammlung von Spenden. Auf Grund der Gemeinnützigkeit könnten sich auch Vorteile bei der Auftragsvergabe der öffentlichen Hand ergeben. Ein geeignetes Betätigungsfeld für sozio-ökonomische Beschäftigungsunternehmen als genossenschaftliche Selbsthilfekooperationen sei der soziale Sektor.

    Die bei den Europarechtstagen 2000 gehaltenen Vorträge sollen in Kürze in einem Band der Schriftenreihe "IUS EUROPAEUM" (Nomos-Verlagsgesellschaft) veröffentlicht werden.

    Prof. Dr. Günter Christian Schwarz


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Politik, Recht, Wirtschaft
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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