Jena (01.08.00) Die "Geburtsminute" unseres Planeten Erde ist deutlich kürzer verlaufen, als bisher angenommen. Das ermittelten Astrophysiker der Friedrich-Schiller-Universität mit Hilfe eines Experiments an Bord der NASA-Weltraumfähre "Discovery". Inzwischen haben die Experten die dreieinhalb Gigabyte Daten aus ihrem CODAG-Projekt (Cosmic Dust Aggregation) ausgewertet, das Ende Oktober 1998 per Shuttle ins All befördert wurde. Dabei simulierten sie erstmals unter Weltraumbedingungen, wie Mikrometer kleine Staubpartikel allmählich zu größeren Körpern zusammenbacken.
In einer zwei Liter großen Versuchskammer ihrer etwa mannsgroßen Apparatur wiederholte das Jenaer Team um Dr. Jürgen Blum jene Vorgänge, die sich vor mehr als viereinhalb Milliarden Jahren in unserem Sonnensystem abgespielt haben müssen. Damals bildete unsere Sonne noch den relativ kühlen Kern einer rotierenden Scheibe aus sich allmählich verdichtenden Gasen. Am Rand dieses merkwürdigen Gebildes, im so genannten solaren Nebel, kondensierten winzige Staubkörnchen aus, die - anfangs nur durch die natürliche Brownsche Bewegung angetrieben - durchs All schwebten. Treffen sie aufeinander, so verklumpen sie zu "Planetenkeimen"; erst allmählich entwickeln sie sich zu größeren Materiebrocken mit eigenen Gravitationskräften und fusionieren Jahrmillionen später zu Planeten.
"Nach rund zehn Millionen Jahren hatte sich unsere Sonne im Zentrum dieser Planetenscheibe so weit verdichtet, dass die Startenergie für den solaren Reaktor, der Wasserstoffatome zu Helium verschmilzt, ausreichte", erläutert Dr. Blum. "Dabei entsteht dabei eine Druckwelle und intensive kurzwellige UV-Strahlung, die die umgebende Gasscheibe samt aller kleinen Partikel mit weniger als einem Kilometer Durchmesser aus dem solaren Nebel ins Weltall schleudert." - Das heißt: Nur aus den relativ massiven Brocken, die sich dann noch in der Umgebung der Sonne befinden, bilden sich die künftigen Planeten und Monde des Systems.
Bislang konnten sich die Wissenschaftler nicht erklären, wie die für galaktische Verhältnisse sehr kurze Zeit ausreichte, um aus den frei schwebenden Staubpartikeln so große Körper wachsen zu lassen. Aus theoretischen Berechnungen und einer Simulation auf der Erde vermuteten sie, dass zu Beginn des Wachstumsprozesses die Masse der Partikel gegenüber ihrer Größe um die Potenz 1,8 zunimmt. "An Bord der Discovery, also unter Schwerelosigkeit, konnten wir aber nachvollziehen, dass diese Potenz nur den Wert 1,3 beträgt, damit also das Volumen der zusammenklumpenden Partikel wesentlich schneller anwächst", erläutert Blum die wichtigste Erkenntnis aus dem Shuttle-Flug. "Zudem handelt es sich nicht um einen zeitlich linearen Prozess, sondern er beschleunigt sich sogar mit der Zeit exponenziell." Offensichtlich spielt dabei die Eigenrotation der Partikel eine bedeutsamere Rolle, als bislang angenommen. Blum: "Es entstehen aus den Staubkörnchen kettenförmige Gebilde, die ihrerseits wiederum andere frei schwebende Partikel einfangen."
Das zumindest konnten die Jenaer Wissenschaftler auf den Filmen erkennen, die zwei Mikroskopkameras aus dem Inneren ihrer Versuchskammer an Bord der NASA-Weltraumfähre drehten. "Bei unserem Experiment verlief die ,planetare Geburtsminute' allerdings rund eine Million mal schneller, weil wir eine wesentlich höhere Partikelkonzentration in das dünne Gas der Apparatur eingebracht haben", schmunzelt Astrophysiker Blum. "Sonst wäre die ,Discovery' nicht lang genug unterwegs gewesen, um einen hinreichend langen Wachstumsprozess unserer Staubagglomerate abzuwarten." Den Jenaer Forschern ging's bei dem Experiment ohnehin nur ums Prinzip.
Mit diesen - unerwarteten - Ergebnissen haben sich die fünf Jahre Arbeit gelohnt, um den Versuchsaufbau zu konstruieren, die 90 Kilo schwere Apparatur zu bauen und all die Antragshürden der interkontinentalen Weltraumbürokratie zu überwinden. Blum: "Ohne die Hilfe des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und ohne die technische Unterstützung der Kollegen aus Bremen und Braunschweig hätten wir es nicht geschafft." Das gesamte Experiment kostete am Ende rund vier Millionen Mark; der geringste Teil davon entfiel auf die Transportgebühr, weil die NASA den Jenaer Behälter mit dem autonom ablaufenden Experiment für nur 27.000 Dollar als Ballast deklariert ins All beförderte.
Befriedigt ist die Neugierde der Jenaer Astrophysiker damit allerdings noch nicht. Unter dem Kürzel ICAPS (Interactions in Cosmic and Atmospheric Particle Systems) planen sie nun das nächste Experiment, das einen späteren Zeitpunkt in der Planetenentstehung simulieren soll - und haben bereits exzellente Aussichten, damit in vier oder fünf Jahren an Bord der Internationalen Raumstation (ISS) zu landen. Die Europäische Weltraumbehörde ESA klassifizierte dieses internationale Projekt unter Jenaer Führung jedenfalls in einer ersten Evaluation als "outstanding".
Ansprechpartner:
Dr. Jürgen Blum
Astrophysikalisches Institut und Universitäts-Sternwarte der Universität Jena
Tel.: 03641/947515, Fax: 947502
E-Mail: blum@astro.uni-jena.de
Friedrich-Schiller-Universität
Referat Öffentlichkeitsarbeit
Dr. Wolfgang Hirsch
Fürstengraben 1
07743 Jena
Tel.: 03641/931031
Fax: 03641/931032
e-mail: h7wohi@sokrates.verwaltung.uni-jena.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Mathematik, Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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