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13.11.1997 00:00

Die Zeiten ändern sich

Sybille Wenke-Thiem Stabsstelle Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Deutsches Institut für Urbanistik

    Medieninformation des Deutschen Instituts für Urbanistik (Difu), Berlin 14. November 1997

    Die Zeiten ändern sich

    Welche Auswirkungen hat der "Zeitstrukturwandel" auf das Leben in der Stadt?

    "Zeit" ist eines der prägenden Paradigmen der Gegenwart: Ihre - scheinbare - Knappheit und ihre damit verbundene Kostbarkeit als Ressource prägen Wirtschaftsgeschehen und alltägliches Leben. Jenseits allen philosophischen Nachdenkens ist Zeit hauptsächlich als Instrument zur Koordinierung von gesellschaftlichen Abläufen von Interesse. Jede Gesellschaft hat spezifische Zeitstrukturen, die die Zeitordnung einer Gesellschaft bilden und mit denen sich wiederum Normen und Sanktionen verbinden. Die Zeitstrukturen moderner Gesellschaften sind durch staatliche Rahmensetzung, durch sozioökonomische Aspekte (z.B. Arbeits- und Betriebszeiten, Schul- und Ferienzeiten) und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Rhythmen sowie natürliche Rhythmen (Vegetations-, Reproduktions- und Biorhythmen) geprägt.

    Das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu), Berlin, hat zum Thema "Kommunale Zeitpolitik" soeben ein Forschungsprojekt abgeschlossen, dessen erste Ergebnisse nun vorliegen. Getragen wurde das Projekt von der Hans Böckler Stiftung sowie den einbezogenen Fallstudienstädten Bonn, Karlsruhe, Münster und Wolfsburg. Die Ergebnispräsentation erfolgte in Workshops in den jeweiligen Fallstudienstädten sowie anläßlich einer am 30. und 31. Oktober 1997 in Berlin durchgeführten Fachtagung. Die ausführlichen Ergebnisse der Studie werden in einer Veröffentlichung im Frühjahr 1998 erscheinen - dennoch zeichnen sich bereits einige wichtige Tendenzen ab:

    Gegenwärtig befinden sich die modernen Gesellschaften in einem Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Aus der "Zeitperspektive" gesehen, ließe sich dieser Prozeß als "Zeitstrukturwandel" bezeichnen. Deutliche Anzeichen für diese Entwicklung sind die Flexibilisierung der Arbeits- und Betriebszeiten und der Arbeitsverhältnisse, die zunehmende Schwierigkeit bei der Planung sozialer bzw. privater Aktivitäten und die Veränderung gesellschaftlicher Rhythmen allgemein. Der Anteil der Beschäftigten in "Normalarbeitsverhältnissen" schrumpft, der Anteil von Nacht-, Schicht-, Wochenend- und regelmäßiger Mehrarbeit steigt von Jahr zu Jahr. Ebenso wächst der Anteil geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse, der Leiharbeit und befristeter Arbeitsverträge.

    Im Mittelpunkt der vom Difu durchgeführten Untersuchung stand die Frage nach den unberücksichtigten Auswirkungen und unbeabsichtigten Folgen dieses Zeitstrukturwandels.

    Die Kernthese lautet: Je komplizierter betriebliche Abstimmungsleistungen werden, desto schwieriger wird auch die Planbarkeit des Privatlebens. Letztendlich führt dies zur Veränderung der gesamten urbanen Rhythmen. Trotz der Polemik "Freizeitpark Deutschland", trotz hoher Arbeitslosigkeit und gesunkener durchschnittlicher Lebensarbeitszeit ist die Bundesrepublik weiterhin eine Arbeitsgesellschaft. Die Dominanz ökonomischer Taktgeber, der Arbeits-, Betriebs- und auch der Öffnungszeiten zeigt sich an ihrer prägenden Kraft für die städtischen Rhythmen. Verkehrsrhythmen sind in erster Linie durch den Berufsverkehr geprägt, der Energieverbrauch von Privathaushalten und Unternehmen ist durch den Wechsel von Arbeitszeit bzw. Betriebszeit und Freizeit bestimmt.

    Wesentliche allgemeine Ergebnisse der Studie sind:

    · Die Unterschiedlichkeit individueller Zeitmuster, hauptsächlich von Arbeitszeiten, führt zu sozialen Problemen, da die gemeinsamen Zeiten beispielsweise einer mehrköpfigen Familie immer seltener deckungsgleich sind. "Pinnbrett-Familien" sind ein Phänomen dieser Entwicklung. Die Koordination von Zeiten wird aufgrund dieses "Auseinanderdriftens" und der Individualisierung von Zeit immer schwieriger und zunehmend technikabhängiger - mobile Erreichbarkeit ist teilweise bereits für die Organisation des Alltags notwendig. · Die Individualisierung von Arbeitszeiten führt zu einer Individualisierung des Verkehrs. In Wolfsburg führte die Ausdifferenzierung der Arbeits- und Betriebszeitmuster zu einer drastischen Reduzierung des öffentlichen Nahverkehrs. Die "Fahrgemeinschaft Bus" zerbrach ebenso wie viele private Fahrgemeinschaften. Die Ausdifferenzierung der individuellen Arbeitszeitmuster führt zudem zu einer Entzerrung des Verkehrs, was wiederum die Attraktivität des Pkw erhöht. · Eine Verstetigung dieser Aktivitätsmuster, die Ausweitung des Zeitrahmens urbaner Aktivitäten erhöht den Energieverbrauch. Es ist zu vermuten, daß mit der weiteren Ausdifferenzierung individueller Zeitmuster auch die gemeinsame Nutzung z.B. von Heizwärme, Küchen- und Unterhaltungsgeräten usw. an Bedeutung verliert. · Die Flexibilisierung von betrieblichen Zeiten führt auch zu abnehmender Planbarkeit von Weiterbildung, gesellschaftlichem Engagement, Privatleben usw. · Räumliche Folgen sind die Beschleunigung von Flächennutzungszyklen, die Spezialisierung von Raumnutzung und ein steigender Flächenverbrauch z.B. für den immens gestiegenen Flugverkehr.

    Erkenntnisse aus den untersuchten Städten:

    Wolfsburg ist eine Kommune, die als Industriestadt im Takt eines Automobilwerkes schlägt. Gerade hier hat es mit Einführung des VW-Modells eine signifikante Veränderung des Arbeits- und Betriebszeitregimes gegeben. Zum einen wurde die 4 Tage-Woche eingeführt, zum anderen wurden die Arbeitszeiten stark flexibilisiert, so daß die Planbarkeit von Zeit im "atmenden Unternehmen" VW für alle Beteiligten abgenommen hat. Bonn, Karlsruhe und Münster sind geprägt durch ihre mittelständische Struktur, ihre - privaten und öffentlichen - Verwaltungen bzw. Verwaltungssitze und ihre Universitäten. Eine zweite Unterscheidung ist die Zusammensetzung der spezifischen Taktgeber: Wolfsburg hat mit dem dominierenden VW-Konzern eine Taktgeber-Monostruktur, die anderen Städte weisen hingegen eine diversifizierte Taktgeberstruktur auf. Die Auswahl der Fallstudienstädte ermöglichte es, den Wandel von Zeitstrukturen in ihrer Wirksamkeit auf Stadtraum und Bevölkerung zu betrachten und gibt darüber hinaus erste Hinweise, in welcher Form und mit welchen Folgen sich Wandel von der industriellen zur nachindustriellen Zeitordnung vollzieht.

    Die Ursachen dieser Entwicklung sind

    · der technische Wandel, d.h. neue Transport- und Kommunikationstechniken, die in den Bereichen Entwicklung, Herstellung und Vertrieb ökonomische Abläufe beschleunigen, · die Globalisierung als Erhöhung der internationalen Marktkonkurrenz und der ökonomischen Vernetzung, die wiederum von der Liberalisierung der Weltmärkte, dem Ende des Ost-West-Konflikts und der politischen Integration z.B. in Europa wesentlich vorangetrieben wird, · der Bedeutungszuwachs des Zeitfaktors in der Ökonomie, Beschleunigung und paßgenaue Vernetzung betrieblicher Abläufe werden zu einem Kernelement des Wettbewerbs sowie · die Individualisierung betrieblicher Arbeitsorganisation als "Verbetrieblichung von Zeitorganisation", ausgelöst durch Deregulierung und die schwindende Verbindlichkeit kollektiver Lösungen (d.h. von Tarifverträgen).

    Aufgrund der oben genannten Auswirkungen kommt es zu Zeitkonflikten in der Gesellschaft (zum Beispiel die Gestaltung der Arbeitszeiten aus Arbeitsgeber- bzw. Arbeitnehmersicht oder Schließzeiten von Kinderbetreuungseinrichtungen, die im Widerspruch zu denen der Geschäfte stehen). Analog zur Entwicklung eines Umweltbewußtseins und Politikfelds "Umwelt" in der Folge zunehmender Umweltprobleme und der Externalisierung privatwirtschaftlicher Umweltkosten entwickelt sich - vor dem Hintergrund externalisierter Flexibilisierungskosten in der Arbeitswelt - ein kritisches Zeitbewußtsein. Es ist jedoch notwendig, ein politisches Handlungsfeld "Zeitpolitik" zu konzipieren und umzusetzen. Auf kommunaler Ebene hieße das, Zeitkonflikte zu erkennen und Zeit, unter Einschluß aller relevanten Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft, aktiv und bewußt zu gestalten. Leitbild einer solchen Politik sollte der Ausgleich ungleicher Zeitinteressen und die Erhaltung bzw. Herstellung einer, in sozialer und ökologischer Hinsicht, zukunftsfähigen städtischen Zeitstruktur sein. "Zeit" als neues Thema und Handlungsfeld liegt dabei quer zu herkömmlichen Ressortgrenzen und Akteurskonstellationen, sie böte somit auch die Möglichkeit eines Neuentwurfs von Politik.

    Erste Erfahrungen mit der konkreten Umsetzung einer kommunalen Zeitpolitik wurden bereits in Italien gesammelt. In allen großen Städten gibt es bereits "Zeitbüros". In Deutschland widmen sich derzeit im Rahmen von Modellprojekten die Städte Bremen, Hamburg und Hannover dem Thema "Zeitstrukturen und Zeitkonflikte auf kommunaler Ebene". In Bremen wurde soeben das erste "Zeitbüro" Deutschlands gegründet. Auf Initiative der ÖTV wurde 1997 in Hanau auf der Basis italienischer Erfahrungen ein "Runder Tisch" zur Gestaltung von Zeit gegründet.

    Zugleich ist es notwendig, den Zusammenhang von Zeitstrukturen und Stadt systematischer als bisher zu untersuchen. Der neue Blick auf die städtische Entwicklung aus der Zeitperspektive ist eine wichtige Erweiterung der Stadtforschung. Zeitforschung und Raumforschung bilden keine Gegensätze, sondern ergänzen sich wechselseitig. Ein solches Forschungsfeld könnte - in Anlehnung an Francois Ascher, Urbanistikprofessor in Paris - mit dem Begriff "Chrono-Urbanistik" umschrieben werden. Chrono-Urbanistik müßte die Stadt als Zeitgefüge, als Gefüge von Taktgebern und Taktnehmern, beschreiben und die entsprechenden Begriffe, Ordnungssysteme (z.B. Typologien von Städten) und Analyseinstrumente entwickeln. Hierzu gehört auch eine Systematisierung von Rhythmen und Rhythmusstörungen - auch im internationalen Vergleich. Zwei Blickrichtungen sind für diese Forschungsperspektive von zentraler Bedeutung: Die Raumwirksamkeit von Zeitstrukturveränderungen und die Zeitwirksamkeit von Raumstrukturen. Diese Fragestellungen lassen sich auch auf andere Paradigmen übertragen, etwa die geforderte Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit von Raumnutzung (HABITAT II): Wie könnte eine Nutzungsflexibilisierung und Nutzungsmischung in zeitlicher Hinsicht gestaltet werden?

    Pressestelle/Kontakt: Sybille Wenke-Thiem, Telefon: O3O/39OO1-2O9/2O8, Telefax: 030/39001-130, mailto:sybille@difu.de http://www.difu.de Der Text ist frei zum Abdruck - ein Belegexemplar wäre schön.

    Weitere Fachinformationen/Kontakt: Prof. Dr. Dietrich Henckel, Telefon: 030/39001-292 Dr. Matthias Eberling, Telefon: 030/39001-104 mailto:eberling@difu.de


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Gesellschaft, Meer / Klima, Politik, Recht, Umwelt / Ökologie, Wirtschaft
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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