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07.07.1997 00:00

Dichtung und Interpretation

Dr. Josef König Dezernat Hochschulkommunikation
Ruhr-Universität Bochum

    Bochum, 07.07.1997 Nr. 136

    ,Was will uns der Dichter damit sagen?" Interpretation: Zuviel oder zuwenig an Wissenschaft?

    RUB-Philosoph mit Publikation über ,Kritik der Interpretation"

    Generationen von Schülern - und vor ihnen ihre Lehrer als sie noch Schüler waren - wurden mit der Frage gequält ,Was will uns der Dichter damit sagen?" Manchem wurde mit ihr der Spaß an der Literatur vermiest. Was aber leistet Interpretation? Gibt es sie überhaupt? Welche Traditionen und ,Feindbilder" liegen ihr zugrunde? Ordnung in diese unübersichtliche Situation bringt erstmals die unlängst publizierte Dissertation des Bochumer Philosophen Dr. Axel von Spree ,Kritik der Interpretation".

    Die Frage nach dem "tieferen Sinn"

    Nicht nur in der Schule, auch bei den Germanisten an der Universität steht das Interpretieren literarischer Texte nach wie vor im Mittelpunkt des Interesses. Immer noch müssen Schüler Fragen nach der ,eigentlichen Bedeutung" oder dem ,tieferen Sinn" von Gedichten, Theaterstücken und Romanen beantworten, und immer noch arbeiten Literaturwissenschaftler an der theoretischen und methodischen Fundierung von interpretativen Verfahren, mit denen Antworten auf solche Fragen gefunden werden sollen. Zwar wurden diese Verfahren durchaus weiter entwickelt - die bei vielen Schülern so gefürchtete Frage ,Was will uns der Dichter damit sagen?" ist heute nur noch selten zu hören -, das eigentliche Anliegen, die Interpretation literarischer Texte, blieb aber unverändert.

    "Rache des Intellekts an der Kunst"?

    Dabei wird die Interpretation schon seit den frühen sechziger Jahren massiv kritisiert und in ihrem zentralen Stellenwert für die Literaturwissenschaft in Frage gestellt. Susan Sontag bezeichnete die Interpretation schon 1964 als ,Rache des Intellekts an der Kunst", die 68er-Generation sah in ihr den repressiven Ausdruck des bürgerlichen Bildungsideals, und Hans Magnus Enzensberger rief zur Befreiung der Schüler von der ,Zwangsarbeit der Gedichtinterpretation" auf. In den siebziger und achtziger Jahren traten dann auch umfangreiche literaturtheoretische Programme, wie z.B. die Empirische Literaturwissenschaft, auf den Plan, die die gängige Praxis der Interpretation als unwissenschaftlich oder erkenntnistheoretisch naiv ablehnten und durch andere, wissenschaftlich anspruchsvollere Verfahren ersetzen wollten.

    "Privatvergnügen von Germanisten"oder wahre Interpretation

    Mit diesem literaturwissenschaftlich zentralen Problem der Interpretation sowie vor allem mit der Forderung nach ihrer Abschaffung befaßt sich die Dissertation Kritik der Interpretation von Dr. Axel Spree, die von Prof. Dr. Werner Strube (Institut für Philosophie der RUB) und Prof. Dr. Gerhard Plumpe (Germanistisches Institut der RUB) betreut wurde. Spree geht von der bemerkenswerten Tatsache aus, daß die Interpretation mit ganz unterschiedlichen Begründungen kritisiert wurde: Für die einen, z.B. für Susan Sontag, stellt sie den Versuch dar, sich der Kunst, die sich per definitionem jedem wissenschaftlichen Zugriff entziehe, allein mit wissenschaftlichen Mitteln zu nähern; die Interpretation ist demnach durch ein ,Zuviel an Wissenschaft" gekennzeichnet. Für andere, z.B. für die Empirische Literaturwissenschaft, ist die Interpretation gar kein wissenschaftliches Verfahren, sondern ein bloß subjektivistisches oder gar irrationalistisches Privatvergnügen der Germanisten; die Interpretation leidet demnach im Gegenteil unter einem ,Zuwenig an Wissenschaft". Wieder andere, z.B. die Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten, stellen den Anspruch der Literaturwissenschaft, richtige oder gar wahre Interpretationen anfertigen zu können, grundsätzlich in Frage und behaupten, es gebe überhaupt nur falsche Interpretationen.

    Interpretation oder Textanalyse

    Die Sache wird noch komplizierter durch das häufig übersehene Faktum, daß es so etwas wie ,die" Interpretation eigentlich gar nicht gibt. Auch unter interpretationskonservativen Literaturwissenschaftlern herrscht ja keineswegs Einigkeit darüber, was genau unter diesem Begriff zu verstehen ist, welche methodischen Schritte in einer Textinterpretation zu tun sind, und mittels welcher Kriterien eine Abgrenzung der Interpretation von anderen Verfahren literaturwissenschaftlicher Textarbeit - etwa der Textanalyse - vorgenommen werden kann. Zwar gibt es eine große Zahl von Interpretationstheorien, jedoch widersprechen sich diese nicht selten gerade in den zentralen Punkten; auch hat sich bisher keine dieser Theorien gegenüber allen anderen durchzusetzen vermocht. Die unterschiedlichen interpretationskritischen Ansätze sind denn auch an verschiedenen Aspekten der Interpretation interessiert, oder anders gesagt: sie wählen zum Gegenstand ihrer Kritik verschiedene Feindbilder. Man kann sich vorstellen, daß die Kommunikation zwischen interpretationskonservativen und interpretationskritischen Autoren durch diese Unübersichtlichkeit erheblich erschwert, ja unmöglich gemacht wird.

    Von der ästhetischen zur erkenntnistheoretischen Fundierung

    Sprees Arbeit versucht nun erstmalig, Ordnung in diese unübersichtliche Situation zu bringen. Mit den Mitteln der analytischen Philosophie werden drei Formen der Interpretationskritik unterschieden und anhand der jeweiligen Prämissen, der Argumentationsweise und der angebotenen Alternativen zur Interpretation analysiert. Dabei zeigt sich, daß es auch so etwas wie ,die" Kritik der Interpretation strenggenommen nicht gibt. Man muß zumindest unterscheiden zwischen einer ,ästhetisch fundierten Interpretationskritik" (für die das ästhetische Erlebnis des Kunstwerks und nicht dessen Interpretation im Vordergrund steht), einer ,wissenschaftstheoretisch fundierten Interpretationskritik" (in der die Interpretation als wissenschaftlich ungenügendes Verfahren kritisiert wird), und einer ,erkenntnistheoretisch fundierten Interpretationskritik" (in der Interpretation als das vergebliche Bemühen um die Offenlegung des einen wahren Textsinns angesehen wird). Aufgrund dieser Situation kann eine pauschale Antwort auf die Frage, ob man denn nun interpretieren solle oder nicht, nicht gegeben werden. In Sprees Arbeit wird deshalb der Vorschlag gemacht, diese durchaus unterschiedlichen und bisweilen sogar einander widersprechenden Positionen nicht über einen Kamm zu scheren und pauschal zu verdammen, sondern sich ,differentialistisch" auf die verschiedenen Argumentationen einzulassen, um so zu einer gerechteren Bewertung der interpretationskritischen Ansätze zu gelangen. Nur dann nämlich, wenn der Blick nicht von vornherein durch die Annahme eindeutiger und allgemeingültiger Auffassungen von ,Interpretation" und ,Interpretationskritik" verstellt ist, wird eine fruchtbare Auseinandersetzung zwischen interpretationskritischen und interpretationskonservativen Ansätzen überhaupt erst möglich.

    Prämierte Arbeit

    Die Arbeit wurde durch ein Promotionsstipendium im Rahmen der Graduiertenförderung des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert und 1995 mit dem Wilhelm-Hollenberg-Preis der RUB ausgezeichnet. Axel von

    Titelaufnahme:

    Spree: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien (Explicatio: Analytische Studien zu Literatur und Literaturwissenschaft, hrsg. von Harald Fricke und Gottfried Gabriel), Paderborn/München/Wien/Zürich: Schöningh 1995.


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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