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23.11.2000 14:39

Religionspolitik und Zivilreligion

Dr. Gerhard Trott Medien und News
Universität Bielefeld

    Religionspolitik und Zivilreligion

    Ist der Begriff der Zivilreligion als religionspolitischer Orientierungsbegriff brauchbar? In einem interdisziplinären Dialog wollen Wissenschaftler, die sich seit Jahren mit dem Zivilreligionstheorem auseinandersetzen, diese Frage während einer Tagung im Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität Bielefeld vom 30. November bis zum 2. Dezember beantworten.

    Diese Tagung nimmt die gegenwärtige Wiederkehr der Religion als Akteur auf dem Feld der Politik zum Anlass, danach zu fragen, welche religionspolitischen Optionen in einer multireligiösen Gesellschaft sinnvoll sind und ob eine postnationale Zivilgesellschaft einen gemeinsamen weltanschaulichen Minimalkonsens, mit anderen Worten: eine Zivilreligion, braucht.

    Der Begriff Zivilreligion, Mitte der siebziger Jahre von Hermann Lübbe und Niklas Luhmann in den deutschen religionstheoretischen Diskurs eingeführt, findet mittlerweile in der Theologie, der Religionswissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Amerikanistik, der Geschichtswissenschaft, der Ethnologie und der Pädagogik Verwendung. "Zwischen gesellschaftlichem Universalkonsens und Bürgerreligion, politischer Religionszuschreibungspraxis und religiöser Dimension der politischen Kultur spannt sich eine ganze Palette von Definitionen", sagt der wissenschaftliche Leiter der Tagung, Prof. Dr. Rolf Schieder aus Landau.

    Die Vielfalt der Zugänge und die multidisziplinäre Vorgehensweise würden ein Kolloquium sinnvoll machen, das die Disziplinen miteinander ins Gespräch bringt und das versucht, die Stärken und die Schwächen des Zivilreligionsbegriffs zu bestimmen. Zur Tagung äußert sich Rolf Schieder wie folgt:

    Die Debatte über Grundwerte ebenso wie die bildungstheoretischen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Ethik- und Religionsunterricht zeigen, dass auch in Deutschland dem Religionsbegriff mit großen Vorbehalten begegnet wird, wenn auch die Notwendigkeit der Formulierung und der Tradierung von Sinnhorizonten für das politische Gemeinwesen anerkannt wird. Diesen Sinnhorizonten aber das Prädikat "religiös" beizulegen, zögern viele und schlagen im Interesse von möglichst großer Inklusion vor, auf den Religionsbegriff zugunsten von Ethik oder praktischer Philosophie zu verzichten.

    Der Zivilreligionsbegriff bedarf einer religionstheoretischen Grundlegung, die den Verdacht des Obskurantismus oder der Erschleichung von Macht durch Ideologisierung der Politik auszuräumen imstande ist. Darüber hinaus muss gezeigt werden können, inwiefern die Einführung einer religiösen Kategorie ein Mehr an Einsicht in die Struktur der Phänomene besitzt. Mit diesem Kolloquium verbindet sich die Hoffnung, einen interdisziplinären Konsens über den religionstheoretischen Zuschnitt des Zivilreligionsbegriffs herbeiführen zu können.

    Über die religionstheoretischen Probleme hinaus soll der Frage nachgegangen werden, ob der Zivilreligionsbegriff über ein Aufklärungspotential für aktuelle religionspolitische Probleme verfügt. Glaubte man vor 1989 zumal im Nachkriegsdeutschland noch, religionspolitische Fragen seien prinzipiell durch die Delegierung des Religiösen an die Kirchen und die Privatsphäre des Bürgers gelöst, so hat sich diese Prognose nicht bestätigt. Inzwischen ist weltweit Religion wieder zu einem Akteur auf dem Feld der Politik geworden. Entsprechend notwendig wird eine aktive Religionspolitik.

    Die Vermutung, dass religionspolitische Entscheidungen ihrerseits auch von religiös-weltanschaulichen Annahmen beeinflusst sind, bedarf der Überprüfung. Sowohl bei den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in religionspolitischen Fragen wie auch in den bildungspolitischen Debatten besteht für eine solche Annahme zumindest ein "Anfangsverdacht". Doch auch die Religionszuschreibungspraktiken der Medien sowie die Zunahme von Inszenierungen, Ritualen und Liturgien in der Politik machen eine Analyse religiös-politischer Phänomene notwendig.

    Weiter ist zu fragen, ob und inwiefern der zunehmende Wertediskurs - von der Grundwertedebatte über die Wertediskussion im Kosovo-Krieg bis hin zur Forderung, Europa habe sich als "Wertegemeinschaft" zu konstituieren - als Symptom für einen zivilreligiösen Bedarf, aber auch für eine zivilreligiöse Problemlage anzusehen ist. Einerseits soll die weltanschauliche Neutralität staatlicher Institutionen gewahrt bleiben, zugleich aber verdankt sich eben diese Neutralität zivilreligiösen Errungenschaften der Neuzeit: die Unterscheidung von Religion und Politik lässt sich nicht gegen, sondern nur mit den Religionen aufrechterhalten.

    Angesichts der Pluralisierung auf dem religiösen Feld stellt sich zudem die Frage, ob eine Zivilreligion imstande ist, religiöse Konflikte zu "zivilisieren". Der Islam in Deutschland kämpft seit Jahren auf bildungspolitischem Gebiet um Gleichberechtigung mit anderen Religionen, die ihm jedoch nur sehr zögernd gewährt wird. Während die christlichen Kirchen diese Gleichberechtigung befürworten, zögert man in den Kultusbürokratien, diese Gleichberechtigung zu vollziehen. Insofern ist der Umgang mit dem Islam und anderen religiösen Minderheiten durchaus als Seismograph für den zivilreligiösen Zustand eines Landes anzusehen. Die zivilreligiöse Sonderrolle des Judentums für Deutschland wird an den Debatten um die Shoah deutlich.

    Weitere Informationen: Tagungsbüro des ZiF, Tel. 0521/106-2769, Fax 0521/106- 6024. Internet:
    http://www.uni-bielefeld.de/ZIF/Schieder.html.


    Weitere Informationen:

    http://www.uni-bielefeld.de/ZIF/Schieder.html


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Politik, Recht, Religion
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
    Deutsch


     

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