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15.12.2000 11:07

Großangelegte Studie vergleicht politische Eliten 1848-2000 in Europa

Dr. Wolfgang Hirsch Abteilung Hochschulkommunikation/Bereich Presse und Information
Friedrich-Schiller-Universität Jena

    Jena (15.12.00)In einem gemeinsamen europäischen Projekt haben Wissenschaftler unter der Federführung des Jenaer Soziolgen Prof. Heinrich Best die Zusammensetzung europäischer Nationalparlamente seit 1848 untersucht. Die wichtigsten Ergebnisse: Einen deutschen "Sonderweg" in die Demokratie gab es so nicht. Vielmehr spiegelt die Herkunft der Parlamentarier die jeweiligen gesellschaftspolitischen Herausforderungen. Best macht für Deutschland mehrere Bruchlinien aus; die jüngste vollzieht sich in den 90er Jahren: Heute müssen sich die Abgeordneten vor allem einer "Performanz-Herausforderung" stellen, also der mediengerechten Darstellung ihrer Person und ihrer Politik. Das letzte große Projekt der politischen Eliten in den europäischen Staaten sei ihre Selbstabschaffung, meint Best und prognostiziert mehr "Karrierediskontinuitäten" und eine zunehmende "Zirkulation der politischen Eliten".

    Der Leumund moralischer Integrität und ökonomischer Interessenferne sowie die Fähigkeit zur mediengerechten Selbstinszenierung, das sind heute die wichtigsten Voraussetzungen für eine parlamentarische Karriere - in ganz Europa. "Die Rekrutierungsmechanismen für die politischen Eliten gleichen sich im Zuge der europäischen Integration immer mehr an", bemerkt Prof. Dr. Heinrich Best, Soziologe an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Gemeinsam mit Kollegen in ganz Europa hat er die einzelnen Nationalparlamente seit 1848 studiert und die Ergebnisse jetzt in einem umfangreichen Buch (Oxford University Press 2000) vorgestellt.

    Die jeweilige Zusammensetzung der Parlamente erkennt der Wissenschaftler als eine Antwort auf gesellschaftliche Herausforderungen. "Und die waren in den europäischen Demokratien im Verlauf der letzten 150 Jahre zunächst durchaus unterschiedlich", so Best. "Einen deutschen Sonderweg hat es in dieser recht heterogenen europäischen Entwicklung nicht gegeben", räumt er mit einem alten Vorurteil auf und schildert die wichtigsten Stationen der Parlamentsgeschichte aus seiner historischen und kulturvergleichenden Studie.

    Von 1848 bis zum frühen Kaiserreich dominierte in Deutschland der Beamtenparlamentarismus. 1848 in der Frankfurter Nationalversammlung waren über 50 %, 1867 im konstituierenden Norddeutschen Reichstag noch 47 % der Abgeordneten Staatsdiener. "Das entsprach der Herausforderung der angestrebten Nations- und Staatsbildung", analysiert der Soziologe. "Beamte wie Landräte und Richter galten als die Experten der Machtorganisation." In den Niederlanden, in Norwegen und - nach der Jahrhundertwende - auch in Finnland verlief diese frühe Phase des Parlamentarismus ähnlich; hingegen durften in England hohe Staatsdiener nicht für das Unterhaus kandidieren, und in Frankreich war der Prozess der Nationenbildung 1848 bereits abgeschlossen.

    In den 1870/80er Jahren, der so genannten Gründerzeit also, wechselte der parlamentarische Aufgabenschwerpunkt - und somit das Personal. Nun galt es, die neuen Möglichkeiten der Industrialisierung rasch umzusetzen und auch in der Landwirtschaft Strukturen für eine größtmögliche Wertschöpfung herbeizuführen. 48 % der Reichstagsabgeordneten waren Gutsbesitzer und Unternehmer, "Spezialisten in der Schöpfung und Aneignung von Reichtum", so Best; ihre wichtigste Aufgabe lag in der Wirtschaftsgesetzgebung. Das verlief in anderen Ländern ähnlich.

    Der nächste Umbruch allerdings war wieder spezifisch deutsch. Bereits ab 1890 zeichnete sich eine zunehmende politische Mobilisierung in der Bevölkerung, vor allem in der Arbeiterschaft, ab. Die SPD stieg zum "shooting star" des Parteiensystems auf, und schickte ihre Funktionäre in den Reichstag. "Daraus resultierte natürlich ein starker Fraktionszwang der Abgeordneten", analysiert Heinrich Best, "denn missliebige Verhaltensweisen konnten durch die Partei mit Entzug der Existenzgrundlage geahndet werden."

    Daran änderte auch die Einführung von Abgeordnetendiäten 1906 nichts entscheidend. Aber auch in anderen Parteien setzte sich das Prinzip durch, Funktionäre als Berufspolitiker in den Parlamenten zu etablieren. Best: "Hier haben wir es mit Spezialisten der Organisationsbildung und der Agitation zu tun." Andererseits gingen dabei auch die Rückbindungen an die Zivilgesellschaft verloren - und ebenso der Antrieb zur Konsensfindung bei politischen Entscheidungen im Reichstag.

    In der Weimarer Republik waren rund die Hälfte der Abgeordneten solche Funktionäre, die von den Parteien fremdgesteuert wurden - in den Augen Bests einer der Gründe für den Zusammenbruch des demokratischen Systems. "Die Zunahme dieser Tendenzen kann man aus der ex-post-Betrachtung schon in der Gründungsphase beobachten", bemerkt er. "Insbesondere in den ,Kampfparteien' KPD und NSDAP waren die Hinterbänkler nur noch Kreaturen ihrer Parteiorganisationen, während die alte Elite der Honoratioren mit den liberalen Parteien unterging." - Die Folgen sind bekannt.

    Nach dem Krieg, als die Eindämmung des Kommunismus und die Etablierung des Wohlfahrtsstaats zu den wichtigsten Zielen wurden, dominierte wieder der staatstragende Öffentliche Dienst im Parlament. Erst für 1990 macht der Soziologe Best wieder eine feine Bruchlinie und das "Ende der Konsensmodelle" aus. Der Anteil der Staatsdiener ging auf 47,1 % zurück, und erstmals seit langem sind wieder mehr Funktionäre als Lehrer im Deutschen Bundestag. Best bemerkt eine "Pluralisierung der Rekrutierungsgrundlage", sprich: die Herkunft der Politiker wird vielfältiger.

    In den Vordergrund rückt nun, da die Nationalstaaten in der europäischen Integration an Bedeutung verlieren, die Performanz-Herausforderung, also die mediengerechte Selbstdarstellung der Politiker. "Das letzte große Projekt der politischen Eliten auf nationaler Ebene ist ihre Selbstabschaffung", meint Best und prognostiziert mehr Karrierediskontinuitäten und eine zunehmende "Zirkulation der politischen Eliten".

    Ansprechpartner:
    Prof. Dr. Heinrich Best
    Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
    Tel.: 03641/945540, Fax: 945542
    E-Mail: best@soziologie.uni-jena.de

    Literatur: Heinrich Best/Maurizio Cotta (Eds.): Parliamentary represen-tatives in Europe 1848-2000. Legislative recruitment and carreers in eleven european countries. Oxford University Press 2000. 549 Seiten.

    Friedrich-Schiller-Universität
    Referat Öffentlichkeitsarbeit
    Dr. Wolfgang Hirsch
    Fürstengraben 1
    07743 Jena
    Tel.: 03641/931031
    Fax: 03641/931032
    E-Mail: h7wohi@sokrates.verwaltung.uni-jena.de


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    Die GRefik zeigt deutlich die hohe Repräsentanz des Öffentlichen Dienstes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und nach dem II. Weltkrieg.
    Die GRefik zeigt deutlich die hohe Repräsentanz des Öffentlichen Dienstes in der zweiten Hälfte des ...

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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Recht
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Die GRefik zeigt deutlich die hohe Repräsentanz des Öffentlichen Dienstes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und nach dem II. Weltkrieg.


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