Tagung des Instituts für Geschichte der Medizin beschäftigt sich vom 12. bis 15. November 2008 mit der Erinnerung an die NS-"Euthanasie"
Mehr als 200.000 kranke und behinderte Menschen wurden während der NS-Zeit ermordet. An diesem Tötungsprogramm ("Euthanasie") waren zahlreiche deutsche Ärzte beteiligt, darunter Universitätsprofessoren und Repräsentanten medizinischer Fachgesellschaften und der deutschen Ärzteschaft. An der Justus-Liebig-Universität (JLU) Gießen werden sich vom 12. bis 15. November 2008 Wissenschafter aus dem In- und Ausland mit der Frage beschäftigen, wie Ärzte, medizinische Organisationen sowie Repräsentanten der internationalen Medizin- und Bioethik sich nach 1945 zur NS-"Euthanasie verhalten haben. Die Tagung "Memories and Representations of National Socialist ,Euthanasia' in Post-World War II Medicine and Bioethics" (Erinnerung und Repräsentation der nationalsozialistischen "Euthanasie" in Medizin und Bioethik nach dem Zweiten Weltkrieg) findet im Rahmen des JLU-Sonderforschungsbereichs "Erinnerungskulturen" statt. Organisiert wird sie von Prof. Dr. Volker Roelcke (Institut für Geschichte der Medizin, Gießen) und Prof. Dr. Etienne Lepicard (Jerusalem).
Die Veranstaltung beginnt am Mittwoch, 12. November 2008, um 17.30 Uhr. Tagungsort ist der Senatssaal im Hauptgebäude der Universität (Ludwigstraße 23. Gießen). Am Samstag, 15. November, ab 9.30 Uhr, kommt es zu einem besonderen Zusammentreffen: Nach einem Eröffnungsvortrag von Prof. Dr. Claus Leggewie (Essen) zum Thema "The Politics of Memory" ("Erinnerungspolitik") sind Repräsentanten der deutschen Ärzteschaft - der Bundesärztekammer, von medizinischen Fachgesellschaften, dem Deutschen Ethikrat - sowie Vertreter von Betroffenen-Organisationen eingeladen. Es werden kontroverse Diskussionen zur Bedeutung der Medizin im Nationalsozialismus für die aktuelle Medizin erwartet, da bis heute weder von der verfassten Ärzteschaft (Bundesärztekammer) noch von den besonders betroffenen Fachgesellschaften (Psychiatrie, Kinderheilkunde) eine offizielle Stellungnahme zur Beteiligung von Ärzten an der NS-"Euthanasie" formuliert wurde. Auch hat es bislang von dieser Seite keine Entschuldigung gegenüber Opfern und deren Angehörigen gegeben.
Ziel der Tagung ist es, die Formen der Erinnerung an die nationalsozialistische "Euthanasie" in der Medizin und Bioethik nach 1945 zu analysieren und die verschiedenen Formen der Interpretation des historischen Geschehens für die aktuelle Medizin und Bioethik zur Debatte zu stellen. Hintergrund sind die Jahre zwischen 1939 und 1945: Damals wurden im Herrschaftsgebiet des Deutschen Reichs weit über 200.000 kranke und behinderte Menschen getötet, wobei bei Planung, Ausführung, Rechtfertigung und wissenschaftlicher "Verwertung" eine Vielzahl auch sehr prominenter Ärzte beteiligt waren. Zu den Verantwortlichen gehörten unter anderem der Vorsitzende der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater, weitere renommierte Professoren der Psychiatrie, Pädiatrie und Neuropathologie sowie Repräsentanten der deutschen Ärzteschaft und der staatlichen Medizinalverwaltung.
Die Zeit des Nationalsozialismus ist für die Medizin sowie für das Arbeitsfeld der Medizin- und Bioethik seit 1945 ein zentraler Referenzpunkt bei Debatten um das eigene Selbstverständnis. Die nationalsozialistische "Euthanasie" ist dabei derjenige zentrale Teilaspekt der NS-Medizin, der in seiner Bedeutung für Identitätskonstruktionen und normative Debatten in der Nachkriegsmedizin und Bioethik am meisten kontrovers aufgegriffen und eingesetzt worden ist. Die Tagung zielt darauf, die sich verändernden Bezugnahmen auf die NS-"Euthanasie" in den breiteren Kontext der Nachkriegsgeschichte und der Auseinandersetzungen mit dem Holocaust zu untersuchen.
Thematisiert werden soll dabei unter anderem die Rolle der berufsständischen Organisationen der Ärzteschaft auf nationaler und internationaler Ebene (Bundesärztekammer oder Weltärztebund) sowie die Rolle derjenigen medizinischen Fachgesellschaften, die in besonderer Weise in die "Euthanasie" involviert waren - die Psychiatrie und Kinderheilkunde. Die Tagungsteilnehmer nehmen dabei insbesondere Diskurse in den Blick, bei denen die individuelle und kollektive Beteiligung von Ärzten an den Tötungen sowie die Kontinuität von Personen und Denkmodellen über die politischen Zäsuren von 1933 und 1945 hinaus thematisiert wurden. Dies war zum Beispiel der Fall, wenn Mediziner der "Euthanasie" überführt wurden oder bei Prozesse über Wiedergutmachungsansprüche von Opfern.
Kontakt:
Prof. Dr. Volker Roelcke, Institut für Geschichte der Medizin
Iheringstraße 6, 36392 Gießen
Telefon: 0641 99-47700
E-Mail: Volker.Roelcke@histor.med.uni-giessen.de
http://www.med.uni-giessen.de/histor/
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Medizin
überregional
Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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