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16.03.2001 14:39

Adlige Erziehungsideale - "Charakter ist alles" - Drill für den feinen Unterschied

Ramona Ehret Stabsstelle Kommunikation, Events und Alumni
Technische Universität Berlin

    Nr. 7, Wissenschaftsdienst "Forschung aktuell" der TU Berlin, 2. Jg. /Nr. 1/März 2001

    Adlige Erziehungsideale
    "Charakter ist alles" - Drill für den feinen Unterschied

    - Bilder vorhanden -

    Bei der Erziehung der Adelsjugend im 19. und 20. Jahrhundert stand nicht Bildung, sondern vor allem die Einübung der traditionellen adligen Denk- und Verhaltensmuster im Vordergrund. Abgrenzung ist hier das Stichwort. Wie die Erziehungsziele und Praktiken in deutschen Adelsfamilien aussahen, untersuchten Historiker der Technischen Universität Berlin anhand von Selbstzeugnissen deutscher Adliger.

    Ausgangspunkt für die Untersuchung waren rund 400 Autobiographien und Lebensgeschichten deutscher Adliger sowie 50 Nachlässe in den Privatarchiven deutscher Adelsfamilien. Für den heutigen Zeitgenossen mag es völlig unverständlich sein, aber die gründliche Schulbindung oder Berufsausbildung war bei adligen Familien zweitrangig. Sie bewahrten, von einigen Ausnahmen abgesehen, eine große Distanz zur Welt der Bildung. Bildungswissen wurde als "tot" eingestuft und mit dem Hinweis auf eine bürgerliche Verwässerung des Charakters abgelehnt.
    Ihren Ausdruck findet diese Haltung zum Beispiel in den Beschreibungen von öden Schulstunden in "stickiger Luft", während der adlige Schüler von Jagd und Natur nur träumen konnte. Die Historiker Marcus Funck und Stephan Malinowski von der TU Berlin betonen, wie auffällig häufig in den Adelsbiographien eine stilisierte Gleichgültigkeit gegenüber Schulnoten zu finden sei. Das Forschungsvorhaben ist eingebettet in das Projekt über "Elitenwandel in der gesellschaftlichen Modernisierung in Deutschland", das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit rund einer Million Mark gefördert wurde und sich nun in der Auswertungsphase befindet.
    Die Angehörigen des niederen Land- und Militäradels in Preußen hegten traditionell eine besonders ausgeprägte Abneigung gegenüber "bürgerlicher" Bildung. Für sie war die Festigkeit des Charakters, die Sicherheit des Auftretens, das sprichwörtliche Gardemaß und körperliche Zähigkeit weit wichtiger. Die Anekdote über den Gutsbesitzer, der sich den Spitznamen "Bücherwurm" verdiente, nur weil er regelmäßig die "Jägerzeitung" las, spricht Bände.
    Über Jahrhunderte war Landbesitz sowie Land- und Forstwirtschaft bis zum Zweiten Weltkrieg das Rückgrat des Adels. Ländliche Herrschaft und das Landleben prägten deshalb maßgeblich die Erziehungsmethoden und -ziele. Dabei wurde der standesgemäßen Erziehung des jungen Adels besonders nach 1918 eine noch größere Rolle zugemessen, da der Adel nach Kriegsniederlage, Revolution und Flucht des Kaisers seine angestammten Privilegien verloren hatte. Sie mussten sich deshalb neu über den besonderen Zusammenhalt der Familie und das standesgemäße Verhalten definieren. So lernte der Nachwuchs von der Wiege auf, etwas völlig anderes zu sein als alle anderen Menschen.
    In den Autobiographien wird dann auch sehr eindringlich die tägliche Einübung des "feinen" Unterschieds geschildert. Die blaublütigen Sprosse übten Handgeben, Handküssen und Verbeugungen. Besonders auch einen bestimmten Sprachstil, adelsspezifische Tischsitten oder sie lernten, wie eine Tür richtig geöffnet oder geschlossen werden durfte. Es war den jungen Adligen verboten bei Tisch zu reden, das Essen zu loben oder über Geld zu sprechen.
    Die Strafen für die Nichtbeachtung waren drastisch: Sie reichten von tagelangem Essensentzug bis zu körperlicher Züchtigung, die klaglos hingenommen werden musste. Charakter zeigte sich dadurch, dass Schmerzen ohne mit der Wimper zu zucken ertragen wurden und man in jeder noch so misslichen Lage Haltung bewahren musste.
    In den Erinnerungen Wilhelms II. finden sich in wenigen Sätzen die Adjektive, die seine Erziehung zum König bestimmt haben: hart, streng, nüchtern, altpreußisch, tränenreich, freudlos, dürr. Dienst, Angst, Rücksichtslosigkeit, Kraft, Schmerz, Pflicht, Entsagung waren die dazugehörigen Substantive, um nur einige zu nennen. Marcus Funck und Stephan Malinowski zeigen, dass die Betonung der militärischen Härte als Erziehungsziel im katholisch-süddeutschen Adel deutlich seltener zu finden war als in Preußen.
    Für den adligen Nachwuchs war es kaum von Nachteil, wenn er wenig Bildung besaß. Einerseits waren die erstgeborenen Söhne verpflichtet, den Familienbesitz zu übernehmen, also Landwirtschaft zu betreiben. Andererseits wurden die jüngeren Nachkommen durch die großen Familiennetzwerke in die beruflichen Positionen der Verwaltung und des Militärs vermittelt.
    Die TU-Historiker haben in ihrer umfangreichen Untersuchung herausgearbeitet, dass die Geringschätzung der Bildung selbst dann beibehalten wurde, wenn die jungen Blaublüter Abitur und ein Studium absolviert hatten. Auch das zeigt Methode, denn ein Adliger hatte es entsprechend seiner Selbsteinschätzung nicht nötig, etwas zu werden, da er von Geburt schon zu Herrschaft und Führung berufen war. Hingegen war der Bürger gezwungen, einzelne Fähigkeiten erst auszubilden, um etwas zu darzustellen. In den Schilderungen der Studentenzeit wird von den adligen Autoren durchweg nicht der Vorlesungssaal, sondern der "Paukboden" auf dem der fechtende Student körperliche Fähigkeiten, Mut, Opferbereitschaft, Korpsgeist und Charakterfestigkeit demonstrierte, hervorgehoben.
    Die städtische Welt des Bildungsbürgertums, die Technisierung und Industrialisierung nahm man mehr und mehr als Bedrohung der adligen Lebenswelt wahr. Die TU-Wissenschaftler sehen in der ablehnenden Haltung der städtischen Eliten eine bewusste Abgrenzung, weil der Adel viele moderne Qualifikationen einfach nicht mehr erfüllen konnte. Diesen Mangel versuchten die adligen Autobiographen dann als adlige Tugend in Verbindung mit besonderer Naturnähe zu stilisieren.
    Das DFG-Projekt unter Leitung von Prof. Dr. Heinz Reif wurde von 1996 bis Ende 2000 durchgeführt. Für 2001 sind weitere Veröffentlichungen über die Ergebnisse der verschiedenen Studien geplant. Aus dem Projekt werden fünf Dissertationen hervorgehen.
    Dr. Luise Gunga (lugu)

    Datenbank
    Ansprechpartner: Marcus Funck, Stephan Malinowski, Technische Universität Berlin, Institut für Geschichte und Kommunikationswissenschaften
    Kontakt: Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin, Tel.: 030/314-26982, E-Mail: marcus.funck@tu-berlin.de, stephan.malinowski@tu-berlin.de
    Fachgebiet: Geschichtswissenschaft, Fachgebiet Neuere Geschichte
    Forschungsprojekt: DFG-Projekt "Elitenwandel in der gesellschaftlichen Modernisierung: Adel und bürgerliche Führungsschichten in Deutschland 1750-1933", Leitung: Prof. Dr. Heinz Reif

    6600 Zeichen, Texte und Bilder kann man unter www.tu-berlin.de/forschung-aktuell abrufen


    Weitere Informationen:

    http://www.tu-berlin.de/forschung-aktuell


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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