Historiker der Universität Jena zeichnet in neuem Band ein Karrierebild der Funktionselite im "Dritten Reich" und in der Bundesrepublik
Jena (27.05.09) Vor 70 Jahren, am 1. September 1939, begann die Geschichte der deutschen Besatzungsherrschaft in Polen während des Zweiten Weltkriegs. Es ist eine Geschichte des Terrors, der Korruption und der Vernichtung. Motor der fortschreitenden Brutalisierung waren die Kreis- und Stadthauptleute. Ihre Rolle hat der Historiker Markus Roth an der Friedrich-Schiller-Universität Jena erstmals umfassend untersucht. In seinem soeben erschienenen Buch "Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen - Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte" beschreibt er ihre Vorreiterrolle für die Radikalisierung in den zentralen Bereichen der Besatzungspolitik.
Warum so viele Kreishauptleute extrem radikal und brutal agierten und damit zu Vorreitern der NS-Besatzungspolitik wurden, liegt für Roth in einer Kombination verschiedener Erklärungsansätze: "Ihre radikale Praxis ging hervor aus der Mischung ideologischer und mentaler Dispositionen, einem Pioniergefühl und einem historischen Sendungsbewusstsein. Viele Kreishauptleute kamen mit einer ausgeprägten Polenfeindlichkeit und einem dezidierten Antisemitismus in das besetzte Polen und waren zuvor in einschlägigen Organisationen aktiv gewesen", erläutert der Historiker. Wer mit seiner brutalen Gangart Erfolge erzielt hatte und wessen Kreis oben auf der Liste stand, erfuhr eine Bestätigung in der Wahl seiner Mittel. Die anderen aber, so stellt Roth in seiner Studie heraus, waren einem Rechtfertigungs- und Handlungsdruck ausgesetzt. Ihnen legte dieses System nahe, die Methoden ihrer Kollegen zu übernehmen oder aber eigene Mittel und Wege zu finden, ihre Ergebnisse zu verbessern. Radikale Vorreiter gaben so den Ton an. Die Kriegssituation trug ihr Übriges zur unerbittlichen Erfüllung der Quoten bei, erschien diese doch kriegswichtig und damit für sie moralisch legitimiert.
Der Untergang des "Dritten Reiches" traf die einstigen "Kreiskönige" hart. Roth untersucht ihre Abwehrhaltungen, Selbstfindungsprozesse und Anpassungsleistungen im Umfeld von Internierung, Entnazifizierung und Auslieferung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Dabei zeigt er, welche große Bedeutung dieses Interim für den gesellschaftlichen Wiederaufstieg der vormaligen Besatzungsfunktionäre in der Bundesrepublik hatte. Eine Entwicklung, zu der die Vergangenheitspolitik der Adenauer-Zeit ebenso beitrug wie die Netzwerke der "Ehemaligen" und die erst spät einsetzenden Ermittlungen der deutschen Justiz.
Dem Zusammenbruch der NS-Herrschaft folgte oft die totale soziale Deklassierung durch z. T. mehrjährige Internierung und Hilfsarbeiten weit unter ihrem Bildungsstand. Die Kreis- und Stadthauptleute wandten sich nicht über Nacht vom Nationalsozialismus ab und verwandelten sich in überzeugte Demokraten, betont Roth. Dies sei ein längerer Prozess mit zunächst ungewissem Ausgang gewesen - bei einigen geschah es wohl nie.
Von ihrer Vergangenheit aber blieben die Kreis- und Stadthauptleute lange unbehelligt. Das änderte sich erst in den sechziger Jahren, als sie überwiegend am Ende ihrer Karrieren angelangt waren, da nun die bundesdeutsche Justiz zahlreiche Ermittlungsverfahren gegen sie führte. Damit sorgte diese nach den Jahren relativer Ruhe für Unruhe in Kreisen der ehemaligen Besatzungsfunktionäre. Diese sahen, sofern sie noch im Beruf standen, ihre Karrieren in Gefahr oder fürchteten um ihre bürgerliche Reputation. Bald schon erwiesen sich die Ermittlungsverfahren aber als relativ harmlos: Wie Roth herausgefunden hat, endeten sie in allen Fällen mit der Einstellung des Verfahrens, der einzige Prozess endete mit Freispruch.
In der Öffentlichkeit fanden die Ermittlungen gegen Angehörige der Zivilverwaltung im deutsch besetzten Osteuropa keine breite Resonanz. Anders als etwa im Falle der Einsatzgruppen oder des Konzentrationslager-Personals kam es in diesem Bereich nie zu einem großen Prozess, der einen zentralen Diskussionsanlass geboten hätte. Das trug dazu bei, dass die Verbrechen und die Beteiligung der Besatzungsverwaltungen bis heute außerhalb der spezialisierten Forschung weitgehend unbekannt geblieben sind.
Markus Roth, geb. 1972, studierte Germanistik, Westslawische Philologie sowie Neuere und Neueste Geschichte in Münster. Er hat mit der nun als Buch vorgelegten Studie 2008 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promoviert. Roth ist jetzt Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Herder-Institut Marburg und der Arbeitsstelle Holocaustliteratur der Universität Gießen.
Bibliographische Angaben:
Markus Roth: Herrenmenschen. Die deutschen Kreishauptleute im besetzten Polen - Karrierewege, Herrschaftspraxis und Nachgeschichte (Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Bd. 9)
Kontakt:
Kristina Meyer M.A.
Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts
Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Zwätzengasse 3, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 944450
E-Mail: Jena.Center[at]uni-jena.de
Rezensionsexemplare:
Monika Meffert
Wallstein Verlag, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Tel.: 0551 / 5489811
E-Mail: mmeffert[at]wallstein-verlag.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Geschichte / Archäologie
überregional
Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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