PINOCCHIO NEU ENTDECKT
BREMER KULTURWISSENSCHAFTLER VEROEFFENTLICHT ERSTES DEUTSCHSPRACHIGES BUCH UEBER DAS BEKANNTESTE KIND DER TOSKANA
- Eine Symbolfigur italienischer Identitaet
- Hauptthema: Pinocchios unvermeidliches Ende der Kindheit
Wer ist Pinocchio? Natuerlich der kleine Kerl mit der grossen Nase, der Held eines Films von Walt Disney, die Figur aus der Zeichentrickserie des ZDF. Was es mit dieser Figur wirklich auf sich hat, dieser Frage ging der Bremer Kulturwissenschaftler und Kindheitsforscher Dieter Richter in einer Studie nach, die jetzt unter dem Titel "Pinocchio oder Vom Roman der Kindheit" (im S. Fischer Verlag) erschienen ist. Es ist das erste deutschsprachige Buch, das sich mit dem italienischen Kinder-Klassiker beschaeftigt, und es verdankt seine Entstehung einer Einladung. Vor einigen Jahren war Professor Richter Gast des "Internationalen Pinocchio-Kongresses" in Florenz, auf dem er voller Staunen Zeuge des Kultes wurde, den die Italiener mit dieser Figur treiben.
1880 schrieb der Florentiner Journalist und Kaffeehaus-Bohèmien Carlo Collodi den Roman von der eigensinnigen hoelzernen Puppe, die am Ende ein Menschenkind, ein braver Junge wie alle anderen wird. Collodi hat sich vom Maerchen und vom Volkstheater der Toskana anregen lassen, aber auch zahlreiche politische Anspielungen in seinem Roman versteckt. Was als Lektuere fuer unfolgsame Kinder gedacht war, entpuppte sich bald als ein Stueck Nationalliteratur. Fast alle italienischen Schriftsteller der Nachkriegszeit haben sich irgendwann einmal mit Pinocchio auseinandergesetzt. Immer wieder wurden neue Deutungsversuche der grotesken Figur unternommen: Pinocchio psychoanalytisch, strukturalistisch, homosexuell, christlich, politisch. Alljaehrlich schreibt italienische Collodi-Nationalstiftung in allen Schulen des Landes einen "Pinocchio-Preis" aus. Pinocchio ist auf diese Weise fast eine Symbolfigur der nationalen Identitaet Italiens geworden, ein Kind natuerlich und der permanente Pechvogel, der es am Ende doch schaffen wird, brav zu werden und sein Glueck zu machen.
Laengst ist Pinocchio auch ausserhalb der Apennin-Halbinsel das bekannteste Kind der Toskana geworden. Collodis Roman ist das am haeufigsten uebersetzte Buch der neueren italienischen Literatur. Nicht weniger als 38 Mal wurde es allein ins Deutsche uebertragen, und nicht selten wurden dabei die antiautoritaeren Eskapaden des kleinen Helden den deutschen Kindern nur mit zusaetzlichen moralischen Warnungen vorgesetzt. Feinfuehligen Erwachsenen wiederum schien manches wegen seiner Grausamkeit absolut unvertretbar. Dass der Schelm fuer eine kleine Luege mit einer langen Nase bestraft wird, dass ihm fuer seine Faulheit Eselsohren wachsen, scheint der modernen Paedagogik gruendlich zu widersprechen.
Dieter Richter entdeckt in Pinocchios Geschichte den Roman der Kindheit. Und er stellt die Figur in Zusammenhang mit anderen grossen Kindergestalten der literarischen Moderne: "Peter Pan", "Alice im Wunderland", "Heidi". Ihr Thema ist das unvermeidliche Ende der Kindheit. Keinem bleibt es erspart, erwachsen zu werden, ob er will oder nicht. Collodi erzaehlt die Metamorphose des Kindes, seinen Weg vom rohen Stueck Natur zum zivilisierten Menschenwesen, und er erzaehlt ihn in der Sprache der Groteske und des Surrealismus. Die makaberen Zuege gehoeren ebenso in dieses Bild wie die sentimentalen, die Auflehnung des Kindes ebenso wie die Guete und zugleich die Grausamkeit der Eltern. In Collodis Roman spielt dabei - anders, als Sigmund Freud es wollte - gerade der Vater die Rolle des Guetigen, des immer Verzeihenden; hingegen ist es die beruehmte "Fee mit den dunkelblauen Haaren", die "Mutter" also, die fuer die Haerte gegenueber dem Kind steht, einer "feministischen Gewalt" (Richter), die aus Liebe und Terror gemischt ist. "Wie froh bin ich, dass ich jetzt ein richtiger Junge bin!": Mit diesem Stossseufzer Pinocchios endet der Roman. Richters Buch zeigt, dass der Autor Collodi sich lange gestraeubt hat, seine Serie von den "Abenteuern einer Holzpuppe" auf diese Weise zu Ende zu bringen. Aber schliesslich blieb ihm doch nichts anderes uebrig. Irgendwann ist der Roman der Kindheit zu Ende.
Weitere Informationen bei: Prof. Dr. Dieter Richter, Universitaet Bremen, Fachbereich Kulturwissenschaften, Postfach 330 440, 28334 Bremen, Tel. 0421/ 218 - 3046 oder - 2032
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