Bochum, 15.10.1997 Nr. 191
Von der Gesellschaft ausgestoßen - von Todesschwadronen gejagt Straßenkinder in Südamerika entwickeln eine eigenständige Kultur RUB- Studie erhält Entwicklungsländerpreis der Uni Gießen
Eine weitere - späte - Ehre wird dem Dr. Stefan Roggenbruck zuteil: Ende Oktober erhält er für seine 1992 in der Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB verfaßte Studie über ,Straßenkinder in Lateinamerika" den Entwicklungsländerpreis der Universität Gießen 1997. Dieser Preis wird in einem zweijährigen Turnus vergeben und beträgt DM 15.000,-. In diesem Jahr wurde er für Arbeiten aus dem Bereich ,Jugend in Entwicklungsländern" vergeben. Das Preisgeld, das in diesem Jahr zu gleichen Teilen an Dr. Roggenbruck und Dr. Kerstin Schimmel (Meißen) geht, stiftet die Kreditanstalt für Wiederaufbau.
Anstaltswesen abschaffen
Straßenkinder in Südamerika schlafen unter Brücken oder in Ladenpassagen, leben von Diebstählen oder vom Verkauf ihrer Körper und greifen, um das zu vergessen, zu Drogen. Zugleich sind sie ständig auf der Flucht vor den Todesschwadronen, den korrupten Polizisten, die -oft im Auftrag von Geschäftsleuten - sie kaltblütig zu hunderten ermorden. Um diesem komplexen gesellschaftlichen Problembereich beizukommen, ist weder Mitleid noch sind Zwangsmaßnahmen angebracht. Priorität ist der Prävention einzuräumen: Das kostspielige Anstaltwesen muß abgebaut, die traditionelle Kindesausstoßung muß bekämpft werden. Gefördert werden sollte statt dessen die aktive Mitarbeit und Eigeninitiative von Familien und Gemeinden sowie das Leben in organisierten Kinder-Gruppen. Dieses Fazit zog Dr. Roggenbruck in seiner Untersuchung ,Straßenkinder in Südamerika. Sozialwissenschaftliche Vergleichsstudie: Bogota (Kolumbien), Sao Paulo (Brasilien) und Lima (Peru)". Für seine von Prof. Dr. Jürgen H. Wolff (Soziologie der Entwicklungsländer, Fakultät für Sozialwissenschaft der RUB) betreute und von der Esser-Stiftung geförderte und bereits mit dem Hollenberg-Preis der RUB ausgezeichnete 1993 Dissertation hat Dr. Roggenbruck primär auf vergleichende und qualitative Methoden zurückgegriffen: auf teilnehmende Beobachtungen und narrative Interviews. Dr. Roggenbruck hat jeweils viermonatige Feldforschungen in den Stadtzentren von Bogota, Sao Paulo und Lima mit Hilfe von Straßenerziehern und Ex-Straßenkindern durchgeführt; so kam ein authentischer Kontakt zu den Betroffenen zustande. Außerdem verfolgte der Bochumer Sozialwissenschaftler die Entwicklung mehrerer Straßenkinder über einen Zeitraum von drei Jahren.
Mehr als 100 Mio betroffen
Über die Hälfte der weltweit geschätzten 100 Millionen Straßenkinder leben in Südamerika, vornehmlich in wuchernden Mega-Städten. Bislang versuchen Behörden, sie von der Straße zu entfernen, indem sie entweder zu Zwangsmaßnahmen wie die Einweisung in Besserungsanstalten greifen oder durch Projekte, die um die Gunst der Kinder wetteifern, sie `verhätscheln', sie sogar zu ,tingelnden Projektkindern" degradieren und ihren Müßiggang fördern. Beide Interventionsstrategien schlagen fehl, weil sie von vorgefaßten Theorien über das Straßenkindwesen ausgehen, so etwa, daß Straßenkinder ein Ausdruck von Abenteuer- und Rebellentum sei (romantischer Ansatz), daß sie z. B. Opfer von autoritären gesellschaftlichen Strukturen sind (Autoritarismus-Ansatz) oder daß sie unter gestörtem Geisteszustand und pathologischem Charakter leiden (psychopathologischer Ansatz). Solche Ansätze kommen zustande, wenn Sozialwissenschaftler Straßenkinder - wie bislang üblich - in Anstalten und mit ungeeigneten `quantitativ-standardisierten Ankreuzmethoden' untersuchen.
Eigenständige "Straßenkinder-Kultur"
Demgegenüber hat Dr. Roggenbruck neben seiner Feldarbeit auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Kultur der Straßenkinder in den verschiedenen Ländern Südamerikas untersucht. Hierbei stellten sich Kolumbien und Brasilien als ,klassische Straßenkind-Länder" mit einer eigenständigen ,Straßenkinder-Kultur" heraus, die in Peru so nicht anzutreffen ist. Daher ist in jenen Ländern ein stärkerer Zusammenhalt unter den Straßenkindern zu beobachten, der sich u. a. in einem etablierten Bandenwesen niederschlägt. Während in Brasilien und Kolumbien über 50 % der Straßenkinder dauernd auf der Straße leben, tun dies nur 20 % der peruanischen Straßenkinder. In Peru gibt es auch nicht diese Masse von Straßenkindern wie in Kolumbien und Brasilien, wo in den 80er Jahren ihre massive Ermordung durch ,Todesschwadrone" um sich gegriffen hat.
Vom Findelhauswesen zur "eigenkindlichen Welt"
Die lateinamerikanischen Ursprünge der Straßenkindheit gehen auf die institutionelle Kindesausstoßung und das bis Mitte des 20. Jahrhunderts existierende Findelhauswesen zurück, das aus Europa nach Lateinamerika verpflanzt wurde. Dort bildete sich eine ,eigenkindliche Welt" heraus, die, von dem Fürsorgesystem vernachläßigt, sich auf der Straße wiederfand. Zudem ist bis heute in Südamerika die Tradition der ,gesellschaftlich hevorgebrachten Hilflosigkeit" ungebrochen. Zahllose Menschen fristen ihr Dasein auf der Straße; von Almosen am Leben gehalten werden sie zu einem ,hilflosen Lebensstil" degradiert, der von Generation zu Generation übertragen wird (so ist zu berücksichtigen, daß in Lateinamerika Unterernährung und psychische Störungen zum Alltag gehören und nicht besonders beachtet werden). Vornehmlich aus diesen beiden Erscheinungen rekrutieren sich dann die Straßenkinder.
Fünf Problemfälle
Sie lassen sich, so Dr. Roggenbruck, in fünf Problemfälle einordnen. Zwei `nicht-pathologische' Fälle sind die ,Impulsiven" und die ,Besonnenen". Die einen sind extrovertierte Charaktertypen, die abenteuerlich ihren Scharfsinn in Diebstählen beweisen, wogegen die anderen als introvertierte Typen verschiedene Arbeiten verrichten und zum Unterhalt ihrer Familien beitragen bzw. ihr Leben selber verdienen. Die pathologischen Fälle erfaßt Dr. Roggenbruck anhand umweltbedingter Faktoren: Er unterteilt sie in ,Hilflose", die der ausgestoßenen Straßenbevölkerung entstammen und denen ein ,hilfloser Lebensstil" anerzogen wurde, ,Mißhandelte", die aus dem Elternhaus auf die Straße geflüchtet sind, wo sie durch Diebstahl und Drogenmißbrauch die im Elternhaus erlittenen Demütigungen ausleben, sowie in ,Verlassene", die im Stich gelassen bzw. ausgestoßen ihren Haß auf der Straße entladen.
Kultur erhalten
Die Feldstudien sowie die Analyse der Entwicklung von mehreren Straßenkindern über einen Zeitraum von drei Jahren fördert nach Dr. Roggenbruck die Erkenntnis zutage, daß das Straßenleben von Kindern nur als ein komplexes Zusammenspiel aus anlage- und umweltbedingten Faktoren begriffen werden kann. Dabei begünstigt gerade die anlagebedingte Impulsivität die Straßenkindheit. Lösungsversuche müssen daher die verschiedenen Problemgruppen von Straßenkindern berücksichtigen und einen integrativen Plan verfolgen. Außerdem plädiert der Bochumer Wissenschaftler sowohl für eine Abschaffung der kostspieligen Anstalten wie für eine behutsame Erhaltung von Teilen der eigenständigen Straßenkinder-Kultur.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Politik, Recht, Wirtschaft
überregional
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Deutsch
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