Islamwissenschaftler der Universität Jena hinterfragen Rolle des Islams in aktuellen Konflikten
Jena (11.05.10) Der Islam hat ein Image-Problem. Obwohl ihn seine Anhänger immer wieder als Religion des Friedens bezeichnen, sind gerade in den vergangenen zehn Jahren viele Gewalttaten in seinem Namen verübt worden. Doch in wie weit ist es der Islam selbst, der Gewaltausbrüche wie etwa die Anschläge des 11. September legitimiert? Dieser Frage widmete sich das Forschungsprojekt „Islamische Kontroversen zur Berechtigung von Gewalt“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Es gehört zum Verbundprojekt „Mobilisierung von Religion in Europa“ der Universitäten Jena und Erfurt sowie der FH Jena. Die Ergebnisse liegen jetzt als Buch vor.
„Muslime sehen sich schon seit einiger Zeit in einer kollektiven Opferrolle und damit in einer Selbstverteidigungssituation“, erläutert Prof. Dr. Tilman Seidensticker von der Universität Jena. „Dieses Bewusstsein, mit dem Rücken an der Wand zu stehen, ist der Schlüssel für das Verständnis der letzten Jahrzehnte“, so der Islamwissenschaftler, der das Jenaer Teilprojekt leitete. In so einer Bedrängnis sei es eher ein sozialpsychologisches als ein religiöses Phänomen, dass Muslime weltweit näher zusammenrücken. „Ein Hauptgrund für diese gefühlte Bedrohung ist definitiv der Palästinakonflikt“, erläutert Prof. Seidensticker. „Er wird in der islamischen Welt als Versuch einer Verdrängung wahrgenommen, als Erbe des Kolonialismus, unter dem viele muslimische Staaten lange gelitten haben und der auch heute noch als Grund für die ökonomische Benachteiligung angesehen wird. Außerdem haben die kriegerischen Konflikte im Irak und Afghanistan viele zivile Opfer gefordert, deren Zahl inzwischen die der Toten des 11. September weit übersteigt.“
Doch ist auch der muslimische Standpunkt oft einseitig, wie der Jenaer Islamexperte weiter erläutert: „Radikale islamistische Vordenker weisen die Schuld vorwiegend dem Westen zu. Der Anteil der Muslime bestehe höchstens darin, nicht fromm genug zu sein.“ Diese Radikalen sind es schließlich auch, die die religiösen Legitimierungen von Gewalten formulieren, während gemäßigte Denker und Aktivisten auf Grund der gleichen Texte zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommen.
Innerhalb des Forschungsprojektes haben die Wissenschaftler Texte analysiert, die im Zusammenhang mit religiös motivierten Attentaten stehen. Ein Beispiel greift den Fall einer jungen Frau auf, die in Tschetschenien auf einen russischen Militärstützpunkt einen Selbstmordanschlag verübte. Nachdem einige Muslime das Attentat als Selbstmord verurteilt hatten, der im Islam streng verboten ist, veröffentlichten Unbekannte auf einer Website eine ausführliche Erklärung, warum diese Tat als Martyrium und nicht als bloßer Selbstmord gewertet werden muss.
Viele Texte belegen, wie gespalten die islamische Welt beim Thema „Gewalt“ ist. So wird das Beispiel einer ägyptischen Gruppierung angeführt, die einen plötzlichen Gewaltverzicht mit den klassischen Dschihad-Bestimmungen begründete. Auch weitere Schriftstücke beschäftigen sich mit dem Thema „Dschihad“. „Dieser Begriff geistert seit einigen Jahren durch die Medien und wird gemeinhin als ,Heiliger Krieg’ übersetzt. Seine Vielschichtigkeit ist aber nur wenigen geläufig“, sagt Seidensticker. „So gibt es auch islamische Gelehrte, die gewaltfreie Aspekte im Dschihad aufdecken.“
Die Jenaer Wissenschaftler haben mit dem abschließenden Buch bewusst den schmalen Grat beschritten, es sowohl für Wissenschaftler als auch für die breite Öffentlichkeit Erkenntnis gewinnend zu gestalten. „Wir möchten einen Beitrag dazu leisten, die innerislamische Dynamik differenzierter verstehen zu können, denn hierzulande ist oft nicht einmal bekannt, dass es diese überhaupt gibt“, begründet der Experte. „Der Islam hat nicht unbedingt mehr Gewaltpotenzial als andere Religionen. Nur gelangen relativ wenige positive Nachrichten aus islamischen Ländern zu uns, dafür ist wohl die kulturelle Schnittmenge zu klein.“
Abschließende Publikation des Forschungsprojektes:
Mariella Ourghi: Muslimische Positionen zur Berechtigung von Gewalt. Einzelstimmen, Revisionen, Kontroversen. Ergon Verlag Würzburg 2010, 190 Seiten, Preis: 32 Euro, ISBN: 978-3-89913-743-9
Kontakt:
Prof. Dr. Tilman Seidensticker
Institut für Sprachen und Kulturen des Vorderen Orients der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Löbdergraben 24a, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 944865
E-Mail: tilman.seidensticker@uni-jena.de
Cover des neuen Buches der Jenaer Islamwissenschaftler.
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Religion, Sprache / Literatur
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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