Deutsch-britisches Neutrino-Experiment beendet die Datennahme
Am 20. Juli geht das unter Federführung des Forschungszentrums Karlsruhe durchgeführte deutsch-britische KARMEN-Experiment (KArlsruhe Rutherford Mittel-Energie Neutrino) mit einem Festkolloquium am Rutherford-Labor nahe Oxford zu Ende. Das international stark beachtete Experiment erforschte die Eigenschaften von Neutrinos, den "Leichtgewichten" unter den Elementarteilchen. Zu diesem aktuellen und spannenden Gebiet der Teilchenphysik lieferte KARMEN in mehr als zehn Jahren wesentliche Beiträge. Unter anderem gelang es, eine von amerikanischen Wissenschaftlern gemessene kosmologisch bedeutsame Massendifferenz der Neutrinos zu überprüfen und weitgehend zu widerlegen. Diese Thematik wird die Neutrino-Experten des Forschungszentrums Karlsruhe auch in Zukunft beschäftigen: Im Karlsruher Tritium Neutrino-Experiment (KATRIN) soll die Masse des Elektron-Neutrinos mit hoher Präzision gemessen werden.
Das KARMEN-Experiment wurde von zwei Forschungsschwerpunkten geprägt: der Frage nach der Wechselwirkung von Neutrinos mit Atomkernen sowie der Suche nach Neutrino-Oszillationen. Zur Messung benutzten die Wissenschaftler einen an der Spallationsneutronenquelle ISIS erzeugten intensiven Neutrinostrahl.
Als Nachweismedium diente ein 56 Tonnen schwerer Mineralöltank, in dem Neutrinoreaktionen charakteristische Lichtsignale erzeugten, die dann durch so genannte Photomultiplier nachgewiesen wurden. Zum Schutz vor störenden Ereignissen durch die kosmische Höhenstrahlung befand sich der Detektor in einer insgesamt 7000 Tonnen schweren Stahlabschirmung, hinter der schwersten, jemals gebauten beweglichen Tür. Neben dem Forschungszentrum Karlsruhe waren am KARMEN-Experiment die Universitäten Karlsruhe, Erlangen, Bonn, Oxford und London beteiligt.
Der Hauptakzent der ersten Messjahre lag auf Präzisionsmessungen im Zusammenhang der Neutrino-Wechselwirkungen. Die Messungen bestimmten sowohl die Häufigkeit als auch die Art und Weise von Neutrinoreaktionen mit Materie. Insbesondere Astrophysiker sind an diesen so genannten Wirkungsquerschnitten interessiert, da sie Einblick in die Dynamik einer Supernova und die damit einhergehende Entstehung neuer Elemente ermöglichen. Supernovae markieren das Ende massiver Sterne und gehen mit den gewaltigsten Explosionen einher, die die Natur kennt. Mehr als 99% der Energie, die bei einer Supernova freigesetzt wird, wird von Neutrinos ins All transportiert.
Außerordentlich hilfreich sind die von KARMEN im Labor gemessenen Werte, um die Häufigkeit der von Neutrinos im Sterneninneren erzeugten Elemente zuverlässig abschätzen zu können. Darüber hinaus konnte KARMEN erstmals eine Neutrinoreaktion beobachten, mit der sich alle bei einer Supernova-Explosion emittierten Neutrinosorten nachweisen lassen - ein wichtiger Schritt im Hinblick auf künftige Experimente, die Neutrinos aus solchen Explosionen direkt nachweisen wollen.
Der zweite Schwerpunkt des KARMEN-Experiments lag auf der Suche nach Neutrino-Oszillationen. Unter diesen versteht man das quantenmechanische Phänomen der wechselseitigen Umwandlung der drei Neutrino-Typen. Dabei bestimmen Oszillationsexperimente nicht die Masse der einzelnen Neutrinosorte, sondern deren Massendifferenz, aus welcher dann untere Grenzen für die Neutrinomassen abgeleitet werden können. Anders gesagt: Der Nachweis von Neutrino-Oszillationen gilt als Beweis dafür, dass Neutrinos Masse besitzen.
Die Frage, ob Neutrinos überhaupt massebehaftet sind bzw. welche Masse sie besitzen, beschäftigt nicht nur die Teilchenphysiker, sondern auch Kosmologen und Astrophysiker. Schließlich könnten massebehaftete Neutrinos einen Teil der dunklen Materie ausmachen, deren Existenz in Kosmologie und Astrophysik seit langem beobachtet wird. Unter "dunkle Materie" versteht man den Beitrag nicht-leuchtender Materie zur Materiedichte des Universums.
Mit hohem Aufwand und Großexperimenten rund um den Globus versucht man der Masse der Neutrinos auf die Spur zu kommen. Dabei erfassen die Experimente infolge ihrer unterschiedlichen Dimensionierung auch jeweils unterschiedliche Skalen der Massendifferenzen. Das KARMEN-Experiment untersuchte einen für die dunkle Materie relevanten Massenbereich.
Als 1995 Wissenschaftler aus Los Alamos in eben diesem Bereich Neutrino-Oszillationen ausmachten, entschloss man sich in Karlsruhe zu einem umfangreichen Umbau des Experiments. Danach war KARMEN als weltweit einziges Experiment in der Lage, die Ergebnisse der Amerikaner zu überprüfen. Nach vier Jahren Messzeit sind die KARMEN-Resultate eindeutig: Für etwaige Neutrino-Oszillationen finden sich keinerlei Hinweise. Damit schließt das KARMEN-Experiment die Oszillations-Behauptung des amerikanischen Experimentes mit hoher Wahrscheinlichkeit aus.
Die Bedeutung dieses Ergebnisses ist nachvollziehbar, wenn man es im Kontext der bisher durchgeführten Neutrino-Oszillationsexperimente betrachtet: Insgesamt existieren heute drei verschiedene, schwer miteinander verträgliche experimentelle Hinweise für Neutrino-Oszillationen. Da mit dem KARMEN-Experiment eine der drei Evidenzbehauptungen als unwahrscheinlich erscheint, lässt sich mit Hilfe von KARMEN nun ein schlüssiges Szenario mit drei massebehafteten Neutrinosorten konstruieren. "Dies ist äußerst wichtig für unser Verständnis von Neutrinos", wie der Sprecher des Experiments, Dr. Guido Drexlin vom Institut für Kernphysik betont.
Im Zuge des mehr als zehnjährigen, vom ehemaligen Leiter des Instituts für Kernphysik, Prof. Dr. Bernhard Zeitnitz, initiierten Experiments, arbeitete das Forschungszentrum Karlsruhe erfolgreich mit den beteiligten Universitäten zusammen. 52 einschlägige Diplomarbeiten und 27 Dissertationen unterstreichen die Bedeutung der Einheit von Forschung und Lehre in internationalen Projekten.
Das Neutrino-Know-how der an KARMEN beteiligten Wissenschaftler des Forschungszentrums Karlsruhe wird auch in Zukunft erhalten bleiben, da sie ihr Engagement für ein neues internationales Neutrino-Projekt bereits zugesagt haben: Mit dem Karlsruher Tritium Neutrino-Experiment (KATRIN) soll auf dem Gelände des Forschungszentrums in den nächsten Jahren die Masse des Elektron-Neutrinos mit hoher Präzision gemessen werden.
Sabine Fodi 20. Juli 2001
Zusätzliche Informationen finden Sie im Themenheft "Teilchen- und Astrophysik" der "Nachrichten" (Ausgabe 2/2001) des Forschungszentrums, das bei der Stabsabteilung Öffentlichkeitsarbeit (Tel. 07247/822861, Fax: 07247/825080) bezogen werden kann.
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Mathematik, Physik / Astronomie
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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