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27.08.2001 14:08

Menschenwürde im Staatskorsett

Dr. Josef König Dezernat Hochschulkommunikation
Ruhr-Universität Bochum

    In ihrer von Prof. Dr. Hans-Martin Sass (Medizinische Ethik, Institut für Philosophie der RUB) betreuten Doktorarbeit kommt Dr. Eva Baumann am Beispiel der Menschenwürde zu dem Schluss, dass die Allgemeingültigkeit von Ideen und Normen teilweise vorgetäuscht sei. In solchen Fällen müsse der Anspruch auf Einheitsbildung durch das Recht aufgegeben werden.

    Bochum, 27.08.2001
    Nr. 246

    Erzwungener Konsens
    Menschenwürde im Staatskorsett
    Provokante Thesen zur Vereinnahmung des Individuums

    Während das gesetzlich festgelegte Tötungsverbot in Deutschland auf hohe gesellschaftliche Akzeptanz trifft, hält lediglich die Hälfte aller Bürger den Schwangerschaftsabbruch für Unrecht. "Ich glaube nicht, dass wir alle verschiedenen Weltanschauungen unter einem rationalen Dach unterbringen können", greift Dr. Eva Baumann die alte Frage auf, wer die Entscheidung zu treffen hat - der Staat oder das Individuum. In ihrer von Prof. Dr. Hans-Martin Sass (Medizinische Ethik, Institut für Philosophie der RUB) betreuten Doktorarbeit kommt sie am Beispiel der Menschenwürde zu dem Schluss, dass die Allgemeingültigkeit von Ideen und Normen teilweise vorgetäuscht sei. In solchen Fällen müsse der Anspruch auf Einheitsbildung durch das Recht aufgegeben werden.

    "Mogelpaket": Rechtwidrig, aber straffrei

    Dr. Baumann vertritt einen unter deutschen Bioethikern nur selten vertretenen so genannten individualethischen Ansatz, den sie am Begriff der Menschenwürde und dem Anspruch des Staates, über den Wert embryonalen Lebens zu entscheiden, darlegt. Mit § 218 hatte der Gesetzgeber große Akzeptanzprobleme, speziell bei den Bürgern aus der ehemaligen DDR, in der es ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch gab. Der Einigungsvertrag, so Baumann, habe das universalistische (einheitliche) Recht in diesem Punkt an seine Grenze getrieben. Die schließlich gefundene Formel "rechtswidrig, mit Beratung aber straffrei" habe deshalb nur ein juristisches "Mogelpaket" werden können. Die Autorin fragt zum Vergleich: "Soll ein Dieb straffrei ausgehen, wenn er sich vor dem Diebstahl beraten lässt?" Die juristische Lösung diskreditiere das Recht selbst. Und doch habe diese Pseudo-Lösung Chancen, auch bei einer Regelung zur Präimplantationsdiagnostik, zur Sterbehilfe oder für das Klonen übernommen zu werden.

    § 218: Ist diese Rechtsprechung legitim?

    Das deutsche Gesetz zur Abtreibung wird nach Meinung Baumanns dort zum Selbstzweck, wo es eine Bewertung des fötalen Lebens vornimmt: Wegen der unterschiedlichen Wertungen des Fötus durch die Bürger fehle dem Gesetzgeber die Legitimität zur einheitlichen Bewertung des Fötus. Die unterschiedlichen Wertungen der Bürger - hier der Embryo bzw. Fötus als Gottes Ebenbild oder als Person, dort als Zellgebilde - hält Baumann für unvereinbar. Die mehr als 2500-jährige Diskussion um die Abtreibung habe gezeigt, dass es den "allgemeingültigen Wert" des ungeborenen Lebens nicht gibt. Die "saubere Lösung" wäre daher, dass der Gesetzgeber sich aus der Bewertung des Fötus heraushalte. Gesetzliche Regelungen zur Abtreibung wären dann weiterhin möglich, aber zum Beispiel aus medizinischen oder aus sozialen Gründen. Vor jeder strafrechtlichen Regelung sei aber zu überlegen, wer überhaupt der erste Entscheider zum Lebensrecht des Embryos sein solle. Für Baumann sind dies die genetischen Eltern.

    Allgemeingültigkeit vorgetäuscht

    Wie war es angesichts der Meinungsverschiedenheiten in der Bevölkerung möglich, dass das Parlament eine einheitliche Bewertung des Fötus fand? Die Lösung liegt in der Formel des Bundesverfassungsgerichts: "Menschenwürde kommt schon dem ungeborenen Leben zu". Die Unbestimmtheit des Begriffes "Menschenwürde", so Baumann, war notwendig, um den fundamentalen Dissens der Bürger zum Wert des fötalen Lebens aufzulösen. Denn auf welche konkrete Eigenschaft des Fötus beziehe sich seine Menschenwürde? Die Zuschreibung der Menschenwürde auch im Falle des ungeborenen Lebens vereinnahme die Bürger, weil ihnen so eine Regelung als allgemeingültig vorgetäuscht werde. Der konkrete Dissens wird mittels abstrakter Übereinkunft zum Verschwinden gebracht.

    Von Grundrecht und Staatszielen

    Baumann übt grundsätzliche Kritik an der Unbestimmtheit des höchsten Verfassungswertes. Er sei nach den Rechtsverwüstungen der Nationalsozialisten als Bollwerk gegen menschenverachtenden Totalitarismus gedacht gewesen. Allerdings ließen ihn die Mütter und Väter des Grundgesetzes bewusst "uninterpretiert", da man sich auf ein Fundament nicht einigen konnte. Eine inhaltliche Füllung nahm erst das Bundesverfassungsgericht vor. Dies erkannte in den Grundrechten und im "Muttergrundrecht Menschenwürde" schließlich mehr als nur die klassischen Schutzrechte. Es entwickelte aus ihnen Staatszielbestimmungen, wie das Ziel der sozialen Gerechtigkeit, und damit auch die Rechtfertigung des Umverteilungsstaates.

    Juristisches Monopol versus "Selberdenken"

    Für Baumann ist die im Grundgesetz verankerte Würde-Idee nicht viel mehr als eine Leerstelle, die vom juristischen Interpretationsmonopol gefüllt werde. Sie erzeuge außerdem den Glauben, dass alle Fragen eindeutig zu beantworten, zumindest juristisch letztlich entscheidbar seien. Offene Dissense, wie der zum ungeborenen Leben, würden da nur das "schöne Bild" von der einheitlichen Vernunft stören. Leider ermutige diese juristisch-staatliche Haltung das Individuum nicht zum Selberdenken. Sie übe dagegen wieder ein, in eine einheitliche staatliche Wertgebung zu vertrauen. Der so geschürte Glaube - dass es einen Konsens immer geben würde und geben müsse - lasse die Bürger unfähig werden, mit Dissensen zu leben.

    Einheit durch Recht?

    Der einheitlichen juristischen Menschenwürde stellt Baumann den Vorschlag einer pluralistischen Menschenwürde gegenüber. Sie würde in letzter Konsequenz dazu führen, manche Bereiche aus dem Recht wieder auszulagern, die nur in Bezug zur jeweiligen Weltanschauung oder Lebensform zu beurteilen sind. Baumann sieht damit allerdings den Nerv juristischer Universalitätsvorstellungen getroffen. Die Funktion der Einheitsbildung durch das Recht wäre teilweise aufzugeben. Eine Vorstellung, mit der sich auch die an "Letztentscheidungsdenken" gewöhnten Bürger kaum anfreunden werden, so Baumann. Eine öffentliche Diskussion hierzu ist denn auch nicht in Ansätzen erkennbar.

    Titelaufnahme

    Baumann, Eva: "Die Vereinnahmung des Individuums im Universalismus", LIT Verlag Münster - Hamburg - London, 2001, ISBN 3-8258-5582-1

    Weitere Informationen

    Dr. Eva Baumann, Email: Eva.Baumann@t-online.de


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Informationstechnik, Medizin, Philosophie / Ethik, Politik, Recht, Religion
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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