Osteuropa-Historiker Joachim von Puttkamer von der Universität Jena ist Mitherausgeber eines Buches über inoffizielle Begegnungen sozialistischer Staatsbürger
Jena (23.09.10) Lange Schlangen und lange Gesichter gehörten zum Alltag in den Staaten des sozialistischen Lagers. Dabei waren die Regale vielerorts gar nicht leer: Doch es fehlten bestimmte Güter, zu denen Südfrüchte genauso gehörten wie Papiertaschentücher und Fahrzeug-Ersatzteile. Weil Not erfinderisch macht, suchten DDR-Bürger im regen Tauschhandel nach Abhilfe. Eine andere Möglichkeit boten Auslandsreisen, gab es doch beispielsweise in Polen oder Ungarn hochwertige Konsumgüter, von denen viele DDR-Bürger nur träumen konnten.
Der Osteuropa-Historiker Prof. Dr. Joachim von Puttkamer von der Friedrich-Schiller-Universität Jena hat gemeinsam mit den Zeithistorikern Jerzy Kochanowski und Włodzimierz Borodziej von der Uni Warschau das Buch „Schleichwege. Inoffizielle Begegnungen sozialistischer Staatsbürger zwischen 1956 und 1989“ herausgegeben. Der Band vereint die Ergebnisse eines Forschungsprojekts, bei dem die Länder Ungarn, Polen, Tschechoslowakei und DDR im Mittelpunkt standen. Gefördert von der VolkswagenStiftung untersuchten die Wissenschaftler zwischen 2006 und 2008 die Kontakte zwischen Bürgern dieser einst sozialistischen Länder. „Die Grenze zwischen offiziellen und inoffiziellen Kontakten verlief fließend“, sagt Joachim von Puttkamer. So seien beispielsweise offizielle Reisen genutzt worden, private Kontakte zu knüpfen.
Zu den verblüffenden Ergebnissen der Studie gehört die Tatsache, dass die gemeinsame Notlage nicht zu Solidarität unter den Bürgern der verschiedenen osteuropäischen Staaten führte. Vielmehr hätten sich die meisten Reisenden in ihren Stereotypen bestätigt gesehen. Außerdem wurden Touristen oft scheel angesehen, weil sie durch ihre Einkäufe den Mangel im eigenen Land verstärkten. Auslandsreisen seien für viele Menschen eine Freiheitserfahrung gewesen, konstatiert Puttkamer. Jedoch habe nur eine kleine Gruppe politisch Interessierter die Freiräume in den jeweils anderen Ländern bewusst genutzt. Allzu großzügige Reisefreiheiten weckten das Misstrauen von Polizei und Staatssicherheitsdiensten. So habe es in der DDR große Befürchtungen gegeben, die Solidarność-Bewegung in Polen könnte „herüber schwappen“. Eine Sorge, die sich als unbegründet erwies.
Auf wenig Begeisterung stießen auch die Reisen von Heimatvertriebenen in ihre einstigen Wohnorte. Doch sei es dabei nicht nur um Argwohn aufgrund geschichtlicher Erfahrungen gegangen, sagt Puttkamer. Vielmehr fehlte eine leistungsfähige touristische Infrastruktur, so dass die Besuche zur Belastung für die Einheimischen wurden.
Die „Schleichwege“ des Handels lassen sich ebenfalls nur schwer klassifizieren. Die Palette reicht von Hamstereinkäufen im kleinen Grenzverkehr bis zu bandenmäßig organisiertem Schmuggel. Obwohl die Wissenschaftler zunächst Tourismus-Ziele wie den Wintersportort Zakopane und den ungarischen Plattensee untersuchten, kamen sie zu dem Schluss, dass es sich um flächendeckende Phänomene gehandelt habe. „Der grenzüberschreitende Handel vermischt sich mit der alltäglichen Praxis in den einzelnen Ländern“, sagt Joachim von Puttkamer. Allem gemeinsam war der verspätete Aufbruch in die (westliche) Konsumgesellschaft.
Bibliographische Angaben:
Włodzimierz Borodziej, Jerzy Kochanowski, Joachim von Puttkamer (Hg.): „Schleichwege. Inoffizielle Begegnungen sozialistischer Staatsbürger zwischen 1956 und 1989“, Böhlau Verlag, Köln Weimar Wien 2010, 381 Seiten, Preis: 49,90 Euro, ISBN: 978-3-412-20561-4
Kontakt:
Prof. Dr. Joachim von Puttkamer
Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Fürstengraben 13, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 944461
E-Mail: Joachim.Puttkamer[at]uni-jena.de
Cover der neuen Publikation "Schleichwege".
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Geschichte / Archäologie
überregional
Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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