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20.09.2001 06:56

Wissenschaftliche Umfrage zu den Ausbauplänen des Flughafen Kassel-Calden

Ingrid Hildebrand Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Universität Kassel

    SPERRFRIST: 20. September, 12 Uhr

    Keine Mehrheit für einen Ausbau des Flughafens Kassel-Calden ergab eine wissenschaftlichen Umfrage bei rund 750 Personen aus Kassel und der Region, die Anfang September durchgeführt wurde. Die Befragung fand im Rahmen eines Forschungsprojekts von Dr. Ernst-Dieter Lantermann, Professor für Sozial- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Kassel, über die sozialpsychologische Theorie des überlegten Handelns statt.

    Kassel. Keine Mehrheit für einen Ausbau des Flughafens Kassel-Calden ergab eine wissenschaftlichen Umfrage bei rund 750 Personen aus Kassel und der Region, die Anfang September durchgeführt wurde. Die Befragung fand im Rahmen eines Forschungsprojekts von Dr. Ernst-Dieter Lantermann, Professor für Sozial- und Persönlichkeitspsychologie an der Universität Kassel, über die sozialpsychologische Theorie des überlegten Handelns statt. In diesem Projekt wird erforscht, inwieweit Menschen in sozialen Kontexten nach rationalen Kriterien entscheiden und handeln oder eher "irrationalen" Strategien folgen. Gerade in Handlungsfeldern von hohem öffentlichen Interesse dürfte diese Frage von besonderer Bedeutung sein. Aus diesem Grunde wurde u.a. der "Fall Kassel-Calden" gewählt, um einige zentrale Annahmen dieser Theorie zu überprüfen. Zum Hintergrund: Der Flughafen Kassel-Calden soll, so der überwiegende Tenor und Vorentscheid von Wirtschaft und Politik in der Region Kassel, ausgebaut werden, damit dort auch größere Passagier- und Frachtmaschinen landen können. Dabei sind zwei Varianten einer neuen bzw. einer verlängerten Start- und Landebahn in der Diskussion, die je nach Ausrichtung, eine Flugschneise über die Stadt Kassel oder über Orte im Landkreis Kassel vorsehen.
    "Das Befragungsergebnis ist spannend, da es deutlich zeigt, dass die Entscheidungen der Befragten in sich rational abliefen; nur war ihre Informationsbeschaffung und damit die Basis der Entscheidung oft irrational," so Lantermann, der die Thematik wissenschaftlich weiterverfolgen will.

    Wer wurde befragt?
    752 in ihrer Zusammensetzung nach Geschlecht und Alter repräsentativ ausgewählte Bürgerinnen und Bürger der Stadt (N= 523) und vier Orten des Landkreises (Ahnatal, Calden, Grebenstein und Immenhausen; N=229) wurden Anfang September telefonisch zu den Ausbauplänen des Flughafen Kassel-Calden befragt. Geplant wurde die Befragung von Prof. Lantermann, Uni Kassel, und durchgeführt vom Rhein-Ruhr-Institut für Sozialforschung und Politikberatung an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg. Unterstützung bei der Auswahl von Argumenten für den Ausbau erhielt Lantermann vom Geschäftsführer der Flughafen GmbH, Jörg Ries, bei der Auswahl von Argumenten gegen den Ausbau vom wirtschaftspolitischen Sprecher der Grünenfraktion in Kassel, Dieter Beig.

    Die Ergebnisse im Überblick:
    34 Prozent lehnen beide möglichen Varianten ab und können daher als prinzipielle Gegner eines Flughafenausbaus gelten. 9 Prozent befürworten prinzipiell einen Flughafenausbau, gleich, welche Variante zum Tragen käme.
    Aus diesen Ergebnissen kann jedoch nicht abgeleitet werden, es fände sich eine Mehrheit für den Flughafenausbaus. Auch unter den 66 Prozent der Bürger, die nicht prinzipiell gegen jeden Flughafenausbau votieren, findet sich keine Mehrheit für eine der beiden diskutierten Varianten:
    15 Prozent der Bevölkerung befürworten die Planungsvariante mit einer Flugschneise über Kasseler Stadtgebiet, 40 Prozent die Planungsvariante mit einer Flugschneise über Gebiete des Landkreises Kassels, 18 Prozent haben sich zu dem Thema Flughafenausbau noch keine Meinung gebildet.
    Als wichtigste Gründe für einen Ausbau sieht die Bevölkerung die von den Befürwortern behauptete Schaffung von zusätzlichen 1300 Arbeitsplätzen (zu 66 Prozent) sowie die mit dem Ausbau verbundene erhöhte Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Kassel (gleichfalls zu 66 Prozent). Als wichtigste Gründe gegen einen Ausbau sieht die Bevölkerung die von den Gegnern behauptete zusätzliche Umweltbelastung der Region (zu 48 Prozent) sowie die erhöhte Lärmbelastung (zu 55 Prozent).
    Wird berechnet, welche Gründe für oder gegen einen Flughafenausbau tatsächlich die Urteile der Bürger über den Flughafenausbau beeinflussen, zeigt sich ein anderes Bild: Den stärksten Einfluss auf die Beurteilung der Ausbaupläne hat das Argument, dass der Ausbau die wirtschaftliche Attraktivität des Standortes verbessern würde, gefolgt von dem (negativen) Argument einer erhöhten Umweltbelastung. Offensichtlich beeinflussen die genannten Gründe gegen einen Flughafenausbau die Haltungen der Bürger gegenüber den Ausbauplänen stärker als die Gründe für einen Flughafenausbau. Und dies, obwohl im Einzelnen die Pro - Argumente durchaus als wichtige Gründe anerkannt werden.

    76 Prozent der Bürger sind der Auffassung, dass von der Politik in dieser Frage "letztlich über die Köpfe der Bürger hinweg entschieden" werde.

    Die Bevölkerung hat sich offenbar in zwei Lager geteilt, in die Befürworter und Gegner eines Ausbaus. Die "Lagermentalität" äußert sich unter anderem darin, dass Befürworter und Gegner jeweils die Argumente der Gegenseite für wenig, die eigenen Argumente dagegen für sehr glaubwürdig halten. Diese Lagermentalität dürfte eine gelingende Kommunikation über die Vor- und Nachteile eines Ausbaus außerordentlich erschweren.

    Die Tageszeitung HNA sowie der Extratip tragen möglicherweise zur Polarisierung der Bevölkerung mit bei. Offensichtlich wird die Berichterstattung dieser beiden Zeitungen über den Flughafenausbau von den Befürwortern wie von den Gegnern der Ausbaupläne als deutlich parteiisch für die Ausbaupläne wahrgenommen

    Vor die (fiktive) Alternative gestellt, sich entweder für den Flughafenausbau oder für den Bau einer Transrapidstrecke nach Paderborn entscheiden zu müssen, entschieden sich 37 Prozent der Befragten für eine Transrapidstrecke nach Paderborn und damit gegen einen Flughafenausbau, 45 Prozent für einen Flughafenausbau und damit gegen eine Transrapidstrecke. 18 Prozent lehnen beides ab.

    Die Theorie des überlegten Handelns
    Die in der Sozialpsychologie prominente Theorie des überlegten Handelns sagt aus, daß Menschen im Prinzip rational entscheiden und handeln. Rational entscheiden meint, daß Menschen, vor eine Entscheidung gestellt, zunächst die Wahrscheinlichkeit und die persönliche Wichtigkeit einer jeden Entscheidungsfolge abschätzen und an-schließend aus diesen beiden Größen die "subjektive Bedeutsamkeit" jeder Entscheidungskonsequenz bestimmen.
    Hält ein Bürger Kassels es zum Beispiel für außerordentlich wichtig, daß die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Kassel erhöht wird, und hält es aber gleichzeitig für wenig glaubwürdig, daß mit einem Flughafenausbau auch tatsächlich eine erhöhte Attraktivität der Region verbunden wäre, dann ist dieses Argument für ihn zwar wichtig, aber unglaubwürdig und von daher auch für seine Entscheidung wenig relevant. Ein anderer Bürger dagegen mag dasselbe Argument für wichtig und gleichzeitig auch sehr glaubwürdig halten. Dann ist dieses Argument für seine Haltung zum Flughafenausbau sehr relevant. Eine Person entscheidet sich dann ganz rational für diejenige Alternative, welche den höchsten "subjektiven Nutzen" aufweist. Diese "Rationalitätsannahme" der Theorie des überlegten Handelns konnte bestätigt werden. Die Haltungen der Bürger zu den Ausbauplänen lassen sich im Rahmen dieser Theorie sehr gut rekonstruieren. Die befragten Bürger urteilen ganz im Sinne eines zweckrationalen Handlungsmodells.
    Aber dennoch ließen sie sich deutlich von "irrationalen" Aspekten leiten. Ihre Irrationalität liegt nicht in der Art ihrer Urteilsbildung, sondern in ihrer "Weltsicht". Zunächst werden die verfügbaren Informationen über mögliche Folgen eines Flughafenausbaus höchst subjektiv, auf der Grundlage von Hoffnungen, Befürchtungen und Ängsten, gefiltert, gedeutet und bewertet und als mehr oder weniger glaubwürdig qualifiziert. Diese "Konstruktion" des Wissens über die Flughafenpläne ist offensichtlich weitgehend von vorgefassten Meinungen und Gefühlen gesteuert und unterliegt gerade nicht einer rationalen Überprüfung. Diese irrationale Verzerrung zeigt sich insbesondere darin, daß über 70 Prozent der Befürworter der Ausbaupläne die Pro-Argumente für sehr glaubwürdig halten, die Gegen-Argumente dagegen für sehr unglaubwürdig. Dasselbe gilt - spiegelbildlich - für die Flughafengegner. Offensichtlich werden die einzelnen Argumente nicht sorgfältig auf ihre Stichhaltigkeit hin beurteilt, um dann auf der Grundlage rationaler Erwägungen in die Entscheidung einbezogen zu werden. Vielmehr entscheidet die vorgefasste Meinung darüber, was als Argument ernst genommen wird, und was nicht. Die in dieser irrationalen Weise gebildeten Meinungen über Einzelaspekte des Flughafenausbaus werden dann wiederum nach rationalem Kalkül zu einem Urteil über die Flughafenpläne zusammengezogen. Bei aller Rationalität des Urteilens liegt die Irrationalität in dem Aufbau des vermeintlichen Wissens über die Flughafenpläne. Diese Irrationalität im "Vorfeld" des Urteilens bleibt in der Theorie des überlegten Handelns ausgeblendet. Und insofern bedarf diese Theorie nach diesen Befunden eine Erweiterung um "irrationale" Komponenten bei der Urteilsbildung in sozialen Kontexten.
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    9.600 Zeichen

    Anmerkungen für die Redaktionen: Unter http://www.uni-kassel.de/presse/pm/sep01-12a.pdf sind weitergehende Informationen und Grafiken zur Untersuchung abrufbar. Prof. Lantermann ist am Donnerstag nur bis 18 Uhr telefonisch erreichbar (0173 2856583).

    Kontakt und weitere Information:
    Universität Gesamthochschule Kassel
    Prof. Dr. Ernst-Dieter Lantermann
    Tel. (0561) 804-3580 oder -3579
    Email: lantermann@uni-kassel.de


    Weitere Informationen:

    http://www.uni-kassel.de/presse/pm/sep01-12a.pdf


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Meer / Klima, Psychologie, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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