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07.03.1997 00:00

Entwicklungshilfe per Radio

Dipl.-Ing. Mario Steinebach Pressestelle und Crossmedia-Redaktion
Technische Universität Chemnitz

    Entwicklungshilfe per Radio

    Eine Studie untersucht das Hoerverhalten von Jugendlichen

    CHEMNITZ. "Die Jugendlichen von heute sind passiv und haengen den ganzen Tag vor der Glotze." Falsch - fuer die meisten jungen Leute ist vielmehr das Radio das wichtigste Medium. Mehr als drei Viertel aller 14-19jaehrigen schalten jeden Tag ihr Radio ein - im Schnitt fuer ueber zwei Stunden. Und nicht nur das: Radiohoeren dient ihnen dazu, sich weiter zu entwickeln. Dabei konsumieren die Jugendlichen die Sendungen nicht einfach passiv, "sie eignen sich den Hoerfunk vielmehr an." Das ist in aller Kuerze das erste Ergebnis einer Untersuchung, die die Chemnitzer Soziologen Prof. Klaus Boehnke und Dagmar Hoffmann gemeinsam mit Kollegen von der Uni Oldenburg durchgefuehrt haben. Die Untersuchung ist der erste Teil einer grossangelegten Studie zum Thema "Hoerfunk als Instanz der Jugendsozialisation in den alten und neuen Bundeslaendern", die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefoerdert wird.

    Die Wissenschaftler befragten insgesamt 135 Jugendliche zwischen neun 9 und 17 Jahren aus Chemnitz und Oldenburg ueber ihre Hoerfunkgewohnheiten - beide Staedte lassen sich aufgrund ihrer Groesse und Sozialstruktur miteinander vergleichen. Die Maedchen waren dabei geringfuegig in der UEberzahl, das Durchschnittsalter lag bei vierzehneinhalb Jahren. Fuer die Untersuchung musste extra ein Fragebogen erarbeitet werden. Die Forscher wollten so moeglichst genau erfassen, warum Jugendliche ueberhaupt Radio hoeren, bei welcher Gelegenheit sie dies tun, was sie sich vom Hoeren versprechen und schliesslich, wie sie das Gehoerte be- und verarbeiten. Ausserdem wollten sie wissen, wie die Jugendlichen ihre Entwicklung selbst einschaetzten und wo sie gern anders waeren. Ein Teil der Untersuchung war zudem sogar als "klingender Fragebogen" angelegt: den Youngsters wurden 18 Aus- chnitte aus Musikstuecken vorgespielt, die sie nach einem vorgegebenen Schema beurteilen sollten.

    Dabei zeigte sich, dass Radiohoeren den Jugendlichen bei ihrer Entwicklung hilft. Sie entspannen, unterhalten und informieren sich beim Hoeren nicht nur, sondern treten ueber das Radio gewissermassen in eine Beziehung zu anderen Menschen und deren Erfahrungen. Dazu dienen vor allem Sendeformen wie Ratgebersendungen, Kontaktboersen, Talkrunden, Spiele oder auch Veranstaltungshinweise. Das Radiohoeren kann dabei soziale Kontakte sowohl ersetzen wie aufrechterhalten oder erleichtern, im Extremfall aber auch verhindern. Je nachdem, wie die Jugendlichen ihre eigene Entwicklung einschaetzen, waehlen sie auch "ihre" Sendungen oder Sender nach ihren persoenlichen Beduerfnissen aus. Sie erhoffen sich dadurch eine Art Lebenshilfe bei Knatsch mit den Eltern oder der ersten Liebe, aber auch bei der Berufswahl oder beim Aufbau eines eigenen Wertesystems.

    Welche Sender gehoert werden, wird aber nicht nur durch den Einzelnen bestimmt, der Freundeskreis redet oft ebenfalls ein Woertchen mit. Das Radiohoeren dient also dazu, Beduerfnisse nach Naehe zu Anderen, aber auch nach Distanz, zu befriedigen.

    Es gelang den Wissenschaftlern, insgesamt vier etwa gleich grosse Gruppen von jugendlichen Rundfunkhoerern zu unterscheiden: solche, die sich nur maessig vom Radio angezogen fuehlen (Gruppe I), die ganz gezielt hoeren (Gruppe II), die leidenschaftlichen Hoerer (Gruppe III) und schliesslich die Uninteressierten (Gruppe IV). Fuer Gruppe I gehoert das Radio "halt dazu", Wortbeitraege interessieren sie nur am Rande, sie unterhalten sich auch kaum mit anderen ueber die Sendungen. Gleichzeitig faellt es ihnen am leichtesten, Radio "nebenbei" zu hoeren, etwa bei den Schulaufgaben. Die Mitglieder dieser Gruppe sind im Schnitt auch etwas aelter als die der anderen. Ganz anders Gruppe II: Deren Angehoerige hoeren seltener, interessieren sich hauptsaechlich fuer Wortbeitraege, die sie gezielt aussuchen. Andere Taetigkeiten stoeren sie nur beim Hoeren. Aus dem gleichen Grunde hoeren sie Radio nicht gern mit anderen zusammen, dafuer aber unterhalten sie sich oft ueber das Gehoerte mit Freunden oder in ihrer Familie. Gruppe III schliesslich kann vom Hoeren gar nicht genug kriegen. Diese Jugendlichen benutzen das Radio, um ihre Gefuehle zu kontrollieren - alles laeuft fuer sie besser, wenn der Kasten an ist, auch die Schulaufgaben. Aber zugehoert wird nicht etwa nur so nebenbei, auch die Informationen sind wichtig. Und keine andere Gruppe setzt sich mehr mit dem Gehoerten auseinander, spricht mit Freunden darueber, beschaeftigt sich auch dann noch mit dem Programm, wenn das Radio laengst abgeschaltet ist. Fuer Gruppe IV hingegen ist das Radio nicht besonders wichtig, sie hoert nur selten und mehr oder weniger zufaellig hin. Das gilt selbst fuer die Musik; hier liegt auch der groesste Unterschied zu den anderen Gruppen. Die Kontrolle der eigenen Gefuehle mit Hilfe des Radios, das Hoeren mit anderen, das Auseinandersetzen mit dem Gehoerten - dies alles spielt fuer sie keine Rolle.

    Die Wissenschaftler fanden auch, dass es zwischen der Gruppenzugehoerigkeit und dem Empfinden der eigenen Entwicklung Zusammenhaenge gibt. Besonders die Jugendlichen in der zweiten Gruppe haben einen gewaltigen Entwicklungsbedarf. Gleichzeitig sind sie mit etwas ueber 14 Jahren auch am juengsten. Sie benutzen Radiosendungen als Gespraechsthema, es dient ihnen praktisch als "Kontaktstifter". Bedeutend geringer empfinden die Mitglieder der ersten Gruppe (Durchschnittsalter 15,2 Jahre) ihren Entwicklungsrueckstand. Noch weniger Probleme damit haben die Vielhoerer der Gruppe III, was darauf schliessen laesst, das intensives Radiohoeren die persoenliche Entwicklung beschleunigt. Am weitesten fortgeschritten in ihrer Entwicklung sind allerdings die Wenighoerer. Sie halten sich fuer abgeklaert, das Radio ist fuer sie mehr oder weniger bedeutungslos.

    Gravierende Unterschiede zeigten sich auch im Ost-West-Vergleich: Die Chemnitzer Youngster empfanden ein erheblich hoeheres Entwicklungsdefizit als die Oldenburger. Differenzen zwischen den Geschlechtern fanden sich hingegen nicht. Durch weitere Untersuchungen - eine Studie mit mehr als 1.000 Schuelern wird zur Zeit ausgewertet - wollen die Wissenschaftler nun klaeren, wie die "Selbstentwicklung" per Radio in ihren Feinheiten ablaeuft.

    Weitere Informationen: Technische Universitaet Chemnitz-Zwickau, Philosophische Fakultaet, Reichenhainer Strasse 41, 09107 Chemnitz, Prof. Klaus Boehnke, Telefon 03 71/5 31-39 25, Fax 03 71/5 31-44 50, Dipl.-Soz. Dagmar Hoffmann, Telefon 03 71/5 31-31 91.

    (Autor: Hubert J. Giess)


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft
    überregional
    Forschungsprojekte
    Deutsch


     

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