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14.07.2011 09:43

Analyse einer Blitzaktion während der Finanzkrise

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Umstrittene Änderung internationaler Bilanzierungsregeln nutzte nur wenigen deutschen Banken.

    Es war eine Nacht-und-Nebel-Aktion auf dem Höhepunkt der Finanzkrise: im Oktober 2008 hat das dafür zuständige internationale Gremium unter Umgehung des vorgesehenen formellen Verfahrens Regeln geändert, nach denen Unternehmen in ihren Jahresabschlüssen ihre finanziellen Vermögenswerte einstufen müssen. Ziel war, die Abwärtsspirale auf den Finanzmärkten zu bremsen, indem rigide Vorschriften für die Beibehaltung einer Bewertung bestimmter Bilanzpositionen zu ihrem aktuellen Marktwert gelockert wurden. Die Wirtschaftswissenschaftlerin Prof. Dr. Renate Hecker von der Universität Tübingen hat nun zusammen mit ihrem wissenschaftlichen Mitarbeiter Christian Klein-Wiele im Rückblick diese Aktion analysiert. Die beiden Spezialisten für Internationale Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung kommen zu dem Ergebnis, dass vor allem Banken in erheblichem Umfang die gebotene Möglichkeit genutzt haben, mit einer Umklassifizierung ihrer finanziellen Vermögenswerte ihr Eigenkapital zu schonen. Allerdings bezweifeln sie in ihrer Veröffentlichung, die in der Ausgabe 4/2011 der Fachzeitschrift „Die Wirtschaftsprüfung“ erschienen ist, dass ein Verzicht auf die Neuregelung in Deutschland eine wesentlich stärkere Abwärtsbewegung der Finanzmärkte zur Folge gehabt hätte.
    Mutterunternehmen, deren Aktien oder emittierte Schuldtitel börsennotiert sind, müssen in Deutschland einen Konzernabschluss nach internationalen Bilanzierungsstandards aufstellen. Diese Rechnungslegungsregeln, die International Financial Reporting Standards (IFRS), werden von einem privaten Standardsetter, dem International Accounting Standards Board (IASB) in London, entwickelt und durch ein spezielles Verfahren der EU in europäisches Recht übernommen. In den USA hingegen gelten die United States Generally Accepted Accounting Principles (US-GAAP).
    Gegenstand der Kritik an den Vorschriften des IASB war seinerzeit die Anforderung, bestimmte finanzielle Vermögenswerte nach dem „Fair Value“, dem Marktpreis, zu bilanzieren. Da die Marktpreise bestimmter Papiere in der Finanzkrise stark gesunken oder zumindest nur noch schwer zu ermitteln waren, hatte es viel Kritik an dieser Regelung gegeben. Unter anderem hatte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem Bericht 2008/2009 kritisiert, diese Regelung wirke prozyklisch, könne also eine Krise verstärken. Die Gefahr liegt vor allem darin, dass Banken, wenn sie ihre Vermögenswerte stark nach unten korrigieren müssen, in Konflikt mit der Bankenaufsicht kommen können, denn diese verlangt von ihnen ein Minimum an Eigenmitteln.
    Auch die Politik, besonders die EU-Kommission, wollte damals, so die beiden Tübinger Wissenschaftler, die Bestimmungen ändern, um die Banken nicht durch Bilanzierungsregeln zusätzlich in Existenzschwierigkeiten zu bringen. So habe der IASB unter hohem Druck gestanden. Schließlich beschloss das Gremium im Oktober 2008 eine Änderung: Zwar müssen die Unternehmen nach wie vor ihre finanziellen Vermögenswerte einer von vier Kategorien zuordnen. Doch wurde ihnen stärker als bisher erlaubt, Werte von einer Kategorie in eine andere zu verschieben. Da die Bilanzierungsregeln für die einzelnen Kategorien unterschiedlich sind, konnten die Unternehmen so Teile ihres Vermögens der Einstufung nach dem Marktpreis entziehen. Offiziell begründet hat der IASB die Aktion damit, er wolle die Wettbewerbsbedingungen denen der US-GAAP angleichen.
    Fast nur Banken nahmen die neu geschaffene Möglichkeit wahr. Beträchtliche Werte im Umfang von 372 Milliarden Euro wurden in den Bilanzen der 100 größten Banken in Deutschland umklassifiziert. „Durch die Umkategorisierung konnten die Banken ihr Eigenkapital in ihrer IFRS-Konzernbilanz für 2008 beträchtlich schonen“, schreiben die Wissenschaftler. „Allerdings konnten nur drei deutsche Banken ermittelt werden, die 2008 ihren IFRS-Konzernabschluss für die Ermittlung der regulatorischen Eigenmittel nutzten“, nämlich die Deutsche Bank, die Dresdner Bank und die Postbank. Alle anderen Banken, darunter ausgerechnet einige von denen, die in eine Schieflage geraten waren, wie die Landesbanken, die Hypo-Real-Estate und die Commerzbank, berechneten ihre Eigenmittel nicht nach IFRS, sondern auf der Grundlage des deutschen Handelsgesetzbuches, auf das die Nacht-und-Nebel-Aktion des IASB keine Auswirkung hatte. Bis Ende 2015 steht den Bankkonzernen in Deutschland ein Wahlrecht zur Verfügung, nach welchem Rechnungslegungsregime sie ihre regulatorischen Eigenmittel an die BaFin melden.
    Die Wissenschaftler ziehen das Fazit, dass die Gefahr, der der IASB mit seiner Blitzaktion im Oktober 2008 begegnen wollte, zumindest für Deutschland eher eine untergeordnete Rolle gespielt habe. „Folglich muss die Vermutung relativiert werden, dass die Anknüpfung der bankaufsichtsrechtlichen Eigenmittel an eine durch eine Bewertung zum Fair Value gekennzeichnete Bilanzierung gemäß IFRS eine Abwärtsspirale an den Finanzmärkten entscheidend verstärkt haben könnte.“

    Kontakt:

    Prof. Dr. Renate Hecker und Dipl.-Kfm. Christian Klein-Wiele
    Universität Tübingen
    Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät
    Lehrstuhl für BWL, insb. Internationale Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung
    Telefon +49 7071 29-77597
    E-Mail: renate.hecker[at]uni-tuebingen.de, christian.klein-wiele[at]student.uni-tuebingen.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten
    Politik, Wirtschaft
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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