Die Geschichte der Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen in Hessen aufzuarbeiten und möglicherweise dahinter liegende Mechanismen zu finden, ist Ziel eines Forschungsprojekts, das der Landeswohlfahrtsverband Hessen (LWV) jetzt an die Universität Kassel vergeben hat. Daraus soll eine Ausstellung zum Thema hervorgehen. Der Fokus richtet sich dabei auf die Jahre 1949 bis 1973.
In dieser Zeit sind Kinder und Jugendliche in Heimen physisch und psychisch gedemütigt worden. Proteste von Vertretern der außerparlamentarischen Opposition und Kritik von Wissenschaftlern lösten ab 1969 in ganz Deutschland Reformen aus. Die Jugendheime Steinmühle und Weilmünster sowie das geschlossene Mädchenheim Fuldatal in Hessen wurden
ab 1974 geschlossen.
„Das Forschungsprojekt markiert einen weiteren Schritt in der Aufarbeitung der Geschehnisse“, betont die Erste Beigeordnete des LWV, Evelin Schönhut-Keil. „Uns ist es dabei außerordentlich wichtig, den Blick von außen zu gewinnen. Deshalb haben wir die Forschungsarbeit ausgeschrieben und externe Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um ihr Konzept gebeten.“ Mit der Universität Kassel wurde schließlich ein Vertrag geschlossen.
Prof. Dr. Mechthild Bereswill (Soziologie) und Prof. Dr. Theresia Höynck (Rechtswissenschaften) leiten das Forschungsprojekt, an dem vier Wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beteiligt sind. Sie werden außerdem mit Prof. Gabriele Franziska Götz und Prof. Joel Baumann vom Studienbereich Visuelle Kommunikation der Kunsthochschule in der Universität Kassel kooperieren.
„Unser Ziel ist es, herauszufinden, ob man Strukturen und Mechanismen erkennen kann, die zu den Missständen und Menschenrechtsverletzungen in der Geschichte der hessischen Heimerziehung von Kindern und Jugendlichen geführt haben“, sagt Prof. Dr. Theresia Höynck. „Auch wenn wir heute in einer anderen Zeit leben, gibt es Strukturen, die Ungerechtigkeiten immer wieder ermöglichen.“
Das Projekt gliedert sich in drei Teile:
1. Auswertung der Akten
Von den 14.000 Fallakten (1,4 Kilometer Akten), über die der LWV verfügt, werden 1.400 exemplarisch ausgewertet. Die Akten erhalten auch Dokumente aus den Jahren 1949 bis 1953, also aus jener Zeit, bevor der LWV die Trägerschaft übernahm.
Die Forscherinnen und Forscher werden Erhebungsbögen entwickeln, mit denen sie die Akten unter bestimmten Kriterien untersuchen. Wiederkehrende Ereignisse werden registriert.
Während dieser Tätigkeit werden sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler regelmäßig austauschen und persönliche Eindrücke reflektieren. Auf dieser Basis werden die Erhebungskriterien weiter entwickelt.
2. Zeitzeugenbefragung
Zeitzeugen werden nach der Methode des narrativen Interviews befragt. Darunter sind ehemalige Heimkinder, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des LWV sowie Kritiker der Heimerziehung.
3. Wanderausstellung
Die Ergebnisse werden in Zusammenarbeit mit dem Studienbereich Visuelle Kommunikation der Kunsthochschule in der Universität Kassel in eine Wanderausstellung einfließen.
Der LWV hat mit seiner Gründung 1953 die Trägerschaft für neun Kinder- und Jugendheime in Hessen übernommen und ab 1970 Reformen umgesetzt. Er hat ab 2004 den Dialog mit ehemaligen Heimkindern aufgenommen. 2006 hat sich die Verbandsversammlung als höchstes Gremium des LWV dafür entschuldigt, „dass Kinder und Jugendliche in unseren Heimen alltäglicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren.“
„Der LWV hat sich schon früh zu seiner Verantwortung bekannt“, unterstreicht LWV-Landes-direktor Uwe Brückmann. „Mit dem Forschungsprojekt und der Ausstellung erkennen wir das Leid der ehemaligen Heimkinder noch einmal öffentlich an.“
Der LWV Hessen hat die Trägerschaft für jene Jugendhilfeeinrichtungen, die nicht geschlossen wurden, abgegeben. Die Kosten in Höhe von 190.000 Euro werden vom LWV und aus Drittmitteln aufgebracht. Diese Pressemitteilung steht kurz nach Erscheinen unter www.lwv-hessen.de auf der Startseite im Internet abrufbereit.
Der Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen und die Heimkinder
Eine kurze Chronik
Mit seiner Gründung 1953 wird der LWV im Auftrag der hessischen Kreise und kreisfreien Städte Träger von neun Kinder- und Jugendheimen in Hessen, in denen zu jener Zeit rund 1.700 Zöglinge leben. Die Aufsicht liegt beim Hessischen Sozialministerium.
Es sind (in der Reihenfolge ihrer Größe)
* das Heilerziehungsheim Kalmenhof in Idstein, in dem auch geistig behinderte Menschen betreut werden
* das Jugendheim Wabern
* das Mädchenheim Fuldatal in Guxhagen
* das Jugendheim Staffelberg
* das Jugendheim Homberg
* das Jugendheim Idstein
* das Jugendheim Steinmühle in Obererlenbach
* das Jugendheim Weilmünster und
* das Jugendheim Lahneck in Buchenau/Lahn.
Der Kalmenhof und das Jugendheim Idstein sowie die Jugendheime in Wabern und Homberg/Efze arbeiten heute in Trägerschaft der Vitos GmbH, einer Tochter des LWV.
In den 70er Jahren wurden das Mädchenheim Fuldatal, das Jugendheim Steinmühle und das Jugendheim Weilmünster geschlossen. Im Januar 2002 hat der St. Elisabeth Verein in Marburg das Jugendheim Staffelberg in Biedenkopf und das Jugendheim Lahneck in Marburg übernommen.
1968/69 werden mit den Aktionen der APO (außerparlamentarischen Opposition) Missstände in den Heimen bekannt. Ulrike Meinhof, Astrid Proll, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, SchülerInnen und StudentInnen prangern die Erziehungspraxis in Flugblättern und Radiobeiträgen an: Man versuche, den Willen der HeimbewohnerInnen zu brechen, verprügele sie, zensiere ihre Briefe und sperre sie wegen nichtiger Vergehen im sogenannten Karzer ein, so die Kritik. Im Fokus auch wissenschaftlicher Kritiker stehen vor allem der Kalmenhof, das Jugendheim Staffelberg und das Mädchenheim Fuldatal in der ehemaligen Klosteranlage Breitenau. Mitarbeiter aus den Heimen selbst kritisieren Missstände öffentlich.
Im Dezember 1969 wird vom Hessischen Sozialministerium ein Beirat für Heimerziehung ins Leben gerufen, der Empfehlungen für eine Heimreform erarbeitet.
Ab 1970 werden Reformen umgesetzt. Die Belegung der Kinder- und Jugendheime wird stark reduziert. Und es werden verstärkt Pädagogen (ErzieherInnen und SozialarbeiterInnen) eingestellt. Die waren bis dahin in den Heimen nur vereinzelt anzutreffen.
Im Kalmenhof sinkt die Zahl der BewohnerInnen von 1.100 im Jahr 1954 bis zum Jahr 1974 auf 200. Im Mädchenheim Fuldatal sind 1953 150 Mädchen untergebracht, 1970 nur noch 35.
1972 wird der Kalmenhof umstrukturiert. Es entstehen drei einzelne Kinder- und Jugendheime mit neuen pädagogischen Konzepten, ein Heim für behinderte Kinder und Jugendliche und ein Heim für behinderte Erwachsene. Heute gibt es dort außerdem eine Werkstatt für behinderte Menschen.
1973 wird das Mädchenheim Fuldatal geschlossen.
1987 beauftragt der LWV zwei Sozialwissenschaftler der Uni Münster anlässlich des 100jährigen Bestehens des Kalmenhofs, die Geschichte der Einrichtung zu erforschen und zu dokumentieren. Christian Schrapper und Dieter Sengling veröffentlichen 1988 im Juventa Verlag das Buch „Idee der Bildbarkeit – 100 Jahre sozialpädagogische Praxis und Heilerziehungsanstalt Kalmenhof“.
1997 öffnet der LWV seine Akten für ein Forschungsprojekt von zwei Melsunger Gesamtschülern. Lucas Schirmer und Christine Wolf bekommen für ihre Dokumentation über das Mädchenerziehungsheim Fuldatal einen Preis beim Schülerwettbewerb „Deutsche Geschichte“.
2004 lädt der LWV ehemalige Heimkinder zu einer ersten Aussprache in den Kalmenhof ein. Bei diesem Treffen wird der Verein ehemaliger Heimkinder gegründet.
Am 5. April 2006 entschuldigt sich die Verbandsversammlung (das Parlament) des LWV bei den ehemaligen Heimkindern für das erlittene Unrecht. „Der Landeswohlfahrtsverband erkennt an, dass bis in die 70er Jahre auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die aus heutiger Sicht erschütternd ist. Der LWV bedauert“, heißt es in der Resolution, die an diesem Tag einstimmig verabschiedet wird, „dass Kinder und Jugendliche in seinen Heimen alltäglicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren“.
Am 9. Juni 2006 veranstaltet der LWV auf Einladung von Landesdirektor Uwe Brückmann gemeinsam mit dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel und der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen im Kalmenhof eine Tagung, um das Thema ins öffentliche Bewusstsein zu bringen. Von Referenten, Tagungsteilnehmern und ehemaligen Heimkindern wird einvernehmlich gefordert, einen Runden Tisch einzurichten.
Im Dezember 2008 wird der LWV Hessen vom Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages nach Berlin eingeladen, um Bericht zu erstatten.
Am 2. April 2009 tagt der Runde Tisch in Berlin bereits zum zweiten Mal. Evelin Schönhut-Keil, die Erste Beigeordnete des Landeswohlfahrtsverbandes berichtet dort über die Aktivitäten des LWV Hessen.
Am 10. November 2009 veranstalten der LWV und die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen im Kalmenhof ein Expertengespräch zum Thema „40 Jahre Heimkampagne – was haben wir daraus gelernt?“.
Am 30. November und 1. Dezember 2009 bietet Klaus Lehning, der für das Aufgabengebiet zuständige LWV-Experte, gemeinsam mit dem Experten der schleswig-holsteinischen Landesregierung, Georg Gorissen, während einer Fachtagung des Runden Tisches einen Workshop an. Titel der Tagung: „Wenn ehemalige Heimkinder heute zu uns in die Beratung kommen“.
Am 16. Juni 2010 beschließt der Verwaltungsausschuss des LWV, die Akten der ehemaligen Heimkinder wissenschaftlich auszuwerten und eine Wanderausstellung zur Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren beim LWV mit einer entsprechenden Dokumentation erstellen zu lassen.
Weitere Informationen geben:
Klaus Lehning
Büro der Ersten Beigeordneten des LWV
Tel. 0561 / 1004 – 2337
klaus-lehning(at)lwv-hessen.de
Jördis Dornette
Büro der Ersten Beigeordneten des LWV
Tel. 0561 / 1004 – 2281
Joerdis.dornette(at)lwv-hessen.de
Elke Bockhorst
Öffentlichkeitsarbeit
Tel. 0561 / 1004 – 2213
elke.bockhorst(at)lwv-hessen.de
Prof. Dr. Mechthild Bereswill
Universität Kassel
Tel. 0561 / 804 – 2976
bereswill(at)uni-kassel.de
Prof. Dr. Theresia Höynck
Universität Kassel
Tel. 0561 / 804 – 2971
Hoeynck(at)uni-kassel.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Gesellschaft, Pädagogik / Bildung
regional
Forschungsprojekte
Deutsch
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