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05.02.2002 10:29

Theologiestudium und Terror in Jerusalem

Dr.-Ing. Karl-Heinz Kutz Presse- und Kommunikationsstelle
Universität Rostock

    Der Streit steht kurz vor einer Explosion im August 2001 auf dem "Christlichen Zionsberg": elf katholische und elf evangelische Theologiestudierende und ein paar Gaststudenten diskutieren heftig, ob sie das Studienjahr in Jerusalem sofort wieder abbrechen müssen. Vor zwei Tagen erst hatte es begonnen, nun ein schwerer Terroranschlag wenige hundert Meter entfernt in der jüdischen Neustadt. Sie hatten Auswahlgespräche und Vorprüfungen bestanden, sich über das DAAD-Auslands-Stipendium gefreut. Sollen sie den Anschlag ignorieren, die Familien in Deutschland beruhigen und einfach losstudieren?

    Ein weltweit einzigartiger Studienort

    Im Garten des stillen Benediktiner-Klosters an der mittelalterlichen osmanischen Mauer der Altstadt mitten in Jerusalem liegt das frisch renovierte Studienhaus mit Einzelzimmern und Lehrräumen, moderner Technik und großer Klosterbibliothek. Die Küche der Mönche sorgt für Essen und Trinken. Abt Benedikt lädt die Studierenden ein zum Stundengebet um 5.30 Uhr, 7 und 12 Uhr, 18 Uhr und zum Nachtgebet um 20 Uhr. Träger des Studiums ist die Theologische Fakultät der Universität San Anselmo des Benediktiner-Ordens in Rom. Das Ziel: ein ökumenisches Studium evangelischer und katholischer Theologinnen und Theologen, Ausbildung durch europäische Lehrkräfte ohne konfessionelle Einschränkungen, auch durch jüdische, orthodoxe und muslimische Dozenten aus dem Nahen Osten. Bereits im Studium sollen Ökumene und Toleranz eingeübt werden. Die Kosten werden begrenzt, weil alle Lehrkräfte auf Honorar verzichten. Wo kann man religiöse Praxis und theologische Lehre verschiedenster Gruppen im Judentum, Christentum und Islam in einer Stadt besser studieren als hier? Zahlreiche Exkursionen an berühmte Stätten der Geschichtsepochen aus 5000 Jahren, Begegnungen mit arabischen und jüdischen Schriftstellern, in Israel akkreditierten Diplomaten, Journalisten und Gastvorlesungen kommen hinzu - so die übliche Planung. Jetzt alles gleich wieder abbrechen und - so bietet die Benediktiner-Ordensleitung an - in Rom fortsetzen? Die Gruppe entscheidet nach stundenlangen Diskussionen überraschend klar: Wir bleiben hier.

    Gottvertrauen, Leichtsinn oder einfach "mein Job"?

    Zum Ende des Wintersemesters, Ende Januar bin ich aus Rostock nach Jerusalem gekommen, um "Biblische Archäologie und Altes Testament" zu unterrichten. Das geschichts- und theologieträchtige Gebiet an der Ostküste des Mittelmeeres übt starke Faszination aus. Seit 1995 betreibe ich im Sommer in Israel archäologische Ausgrabungen und organisiere Studentenexkursionen durch das Land. Jedesmal gab es mehr oder weniger schwere Anschläge. Eigentlich ist es ein Unding, sich an diese terroristische, an Bürgerkrieg grenzende Situation zu gewöhnen. Aber die Gewöhnung ist auch ein gewisser Schutz, sagen mir Israelis, Palästinenser wie auch Studierende und Mönche im Kloster. "Wir müssen ja den Alltag bewältigen". Ein Korrespondent der FAZ und - ganz ähnlich - einer der "New York Times" erzählen mir, wie sie sich fühlen: Mit dem analysierenden Abstand des Journalisten beschreiben sie, was hier los ist, versuchen vorsichtig Fragen zu stellen, die mögliche Lösungsrichtungen andeuten. Beide erkennen keine konstruktive Konzeption bei den Kontrahenten, die eine dauerhafte Chance für beide Seiten eröffnet. Sie sehen aber eine blinde Gewaltspirale. Der israelische Journalist einer großen liberalen Zeitung, der zuhört, sagt: Die eine Seite weiß, daß sie stärker ist; ist sie das wirklich und für immer? Die andere Seite schlägt zu und denkt, das sie nichts mehr zu verlieren hat; ist das wirklich so? Wir kommen nicht allein aus dieser selbstzerstörerischen Vergeltungsspirale heraus. Dann erzählt einer der drei einen bitteren Witz, eine Fabel über "orientalische Irrationalität".

    Klosterwahlspruch "Bete und arbeite" und Anschläge in Serie

    Der Gewöhnungseffekt versagt, als in der ersten Woche meines Aufenthalts in Jerusalem, kaum 2000 Meter entfernt in der jüdischen Weststadt sowie in Tel Aviv im 2-Tage-Abstand Bomben detonieren und Menschen beider Seiten sterben. Eine Gaststudentin aus dem Emsland, die separat in der jüdischen Neustadt wohnt, kommt verstört zur Vorlesung. Sie will nicht genauer erzählen, was sie erlebt und gesehen hat: zu blutig und schrecklich. Es war der erste Anschlag durch eine junge Frau. Sie soll nicht religiös motiviert gewesen sein, lesen wir am nächsten Tag, konnte keine Kinder bekommen, wurde geschieden, wollte etwas für ihr Volk tun. Dies und das gestrige deprimierende Gespräch mit den Journalisten will mir nicht aus dem Kopf, während ich den Studierenden die langen Wege und Kämpfe vom uralten traditionellen Polytheismus, Glauben an viele verschiedene Götter, zum monotheistischen Ein-Gott-Glauben durch archäologische Funde und biblische Texte erklären soll. Was ich sonst mit ganzem Herzen, Freude und Schwung tue, fällt mir heute sehr schwer. Die Situation erscheint fast surrealistisch. Beim Mittagsgebet in der Klosterkirche weichen die Schatten der Gegenwart - Gott sei Dank - etwas zurück. Die Mönche stimmen den benediktinischen Psalmen-Gesang aus der Bibel an. Kann man nach den Ereignissen der letzten Tage mit den Gedanken ganz anwesend sein? Gleich im ersten der vier Psalmen schreit der Psalmdichter seine Angst und Ratlosigkeit Gott entgegen. Dieser Psalm handelt ja von uns hier in Jerusalem! Ich sehe die schwer verletzten israelischen Passanten drüben in der jüdischen Neustadt vor mir und die tote Palästinenserin. Mein Gott, machŽ diesem Wahnsinn ein Ende! Wir sind in einer Sackgasse. - Am nächsten Tag wird die palästinensische Stadt Tulkarm von Panzern umstellt. Nach Bethlehem kommt man - auch als Ausländer - nur noch sehr schwer durch die Straßensperren. Einer unserer Studenten steigt einfach aus und läuft quer über einen Acker in den Ort, zum Schrecken des verantwortlichen Studiendekans.

    Gibt es eine Lösung?

    Die Diskussion "Abbruch des Studienjahres oder nicht" flammt wieder auf. Wird es ein nächstes Studienjahr 2002/03 überhaupt geben können? Die Bewerberzahlen sind trotz der Attraktivität zurückgegangen. Wie die anderen im Studienhaus lese ich eifrig Zeitungen, die im Foyer liegen, israelische, palästinensische, amerikanische: Viele kluge Analysen, Informationen, Hintergründe, auch erschreckende Polemik und gelegentlich offener Haß gegen die anderen und Racheforderungen. So wichtig das Studieren hier ist, für das wir, Studierende und Lehrende, gekommen sind: Ohne die geistliche Ruhe und Stille bei den fünf täglichen Gebetszeiten in der Klosterkirche wären die Spannungen für manche(n) kaum auszuhalten. Eine Lösung fällt nicht herab aus der hohen Kalksteinkuppel der Klosterkirche. Uns wird aber klar, daß wir hier dasjenige suchen und finden, was manchem der Hasszerfressenen Kontrahenten fehlen mag: Stille, Ruhe, Gebet um klaren Blick zurück und nach vorn, innere Öffnung gegenüber Menschen rechts und links, vor und hinter mir, Mitmenschen, die Hoffnung, Liebe, Verläßlichkeit, Vertrauen und Leben im Frieden brauchen wie ich.

    Prof. Dr. Hermann Michael Niemann
    Theologische Fakultät
    T: 0381 498 8410


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    fachunabhängig
    überregional
    Studium und Lehre
    Deutsch


     

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