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06.02.2002 16:14

PISA und die Folgen im Grundschulbereich: Die Erfahrungen der Laborschule

Dr. Gerhard Trott Medien und News
Universität Bielefeld

    Die alarmierenden Ergebnisse der PISA-Studie insbesondere im Bereich der Lesekompetenz haben zu einer breiten öffentlichen Diskussion über notwendige Veränderungen im bundesdeutschen Schulsystem geführt. Dabei häufen sich die Vorschläge, die eine verstärkte Förderung im Grundschulbereich und einen Einbezug schon der Fünfjährigen in schulisches Lernen fordern. Besonders erwähnenswert erscheint uns hier die Absichtserklärung der SPD-Landtagsfraktion in NRW vom 29.01.02. Danach soll(en) in Nordrhein-Westfalen

    - langfristig alle Grundschulen zu Ganztagsschulen ausgebaut werden.
    - der Einschulungstermin vorverlagert werden, so dass schon fünfeinhalbjährige Kinder die Grundschule besuchen sollen.
    - der Bildungsauftrag des Kindergartens verstärkt werden, um die Kinder gezielter auf die Anforderungen der Grundschule vorzubereiten.

    Diese Vorschläge werden gegenwärtig in der Öffentlichkeit kritisch diskutiert. Zum einen stellt sich die Frage, ob damit wirklich zusätzliche Fördereffekte erzielt werden können. Zum anderen wird immer wieder die Befürchtung laut, dass damit eine massive Überforderung kleiner Kinder verbunden sein könnte. Vor dem Hintergrund dieser öffentlichen Diskussion meldet sich die Laborschule zu Wort. Denn die 1974 von Hartmut von Hentig gegründete Laborschule kann auf eine mehr als 25jährige Erfahrung mit einer reformierten Eingangsstufe verweisen, in der viele der geforderten Maßnahmen bereits realisiert sind. Diese Eingangsstufe der Laborschule kennzeichnet sich dadurch,

    - dass die Kinder bereits mit fünf Jahren eingeschult werden.
    dass sie drei Jahre in einer altersgemischten Lerngruppe (5-, 6- und 7jährige) lernen, bevor sie in eine Jahrgangsklasse (3. Schuljahr) überwechseln.
    - dass in dieser Eingangsstufe durch methodisch vielfältige Formen des individualisierten Lernens Kinder schon früh an das Lesen und Schreiben herangeführt werden.
    - dass die Schule ein ganztägiges Betreuungsangebot macht, so dass die Kinder bis 15.30 Uhr in der Schule bleiben können.
    - dass die nachmittägliche Betreuung keine Verlängerung des Unterrichts darstellt, sondern in vielfältiger Weise auf die Spiel- und Aktivitätsbedürfnisse der Kinder eingeht.
    - dass das Sitzenbleiben (wie in allen anderen Jahrgängen der Laborschule) abgeschafft ist.
    - dass im Rahmen der Eingangsstufe Lehrerinnen und Erzieherinnen seit vielen Jahren eng und konstruktiv miteinander kooperieren.

    Diese Eingangsstufe der Laborschule findet bei den Eltern hohe Akzeptanz: Jedes Jahr können 60 Kinder aufgenommen werden - regelmäßig wird mehr als die doppelte Anzahl angemeldet. Seit 1974 haben mehr als 1.500 Kinder diese kindgerechte Eingangsstufe durchlaufen, dabei sind die Erfahrungen durchgängig positiv: Fünfjährige kommen mit großer Neugier in die Schule, und sie finden es spannend, gemeinsam mit ein- oder zwei Jahre älteren Kindern zu lernen. Die Aktivitäten am Nachmittag überfordern die Kinder nicht, sondern bieten ihnen altersgemäße Möglichkeiten von Spiel, Bewegen und Lernen. Es hat sich immer wieder gezeigt, dass die Ganztagsschule vielfältige sprachliche Lernsituationen bietet. Wenn der Anteil von Kindern nicht-deutscher Muttersprache ein Drittel nicht übersteigt, entsteht in den Lerngruppen eine anregungsreiche Umwelt gerade auch für das Erlernen der deutschen Sprache. Heide Bambach, seit mehr als 20 Jahren Leiterin der Primarstufe der Laborschule, faßt die langjährigen Erfahrungen in der Eingangsstufe der Laborschule zusammen:

    "In all den Jahren hat es bei uns keinen Zweifel daran gegeben, dass es den Fünfjährigen gut tut, bei uns in der Schule zu sein. Wir haben Heterogenität sehen und verstehen, schätzen und nutzen gelernt: Heterogenität der Herkunft, des Geschlechts, der Begabungen und - in besonderer Weise - der Lebensalter. Wir haben erkannt: Was Kinder voneinander und manchmal auch füreinander lernen, ist mindestens ebenso viel und wichtig wie das, was wir Erwachsenen ihnen beibringen können. Und was schnell und leicht lernende Kinder durch die Selbständigkeit profitieren, die ein Schultag in einer heterogenen Gruppe zulässt und zumutet, geht weit über das hinaus, was gleichschrittiger Unterricht ihnen an Aufgaben und Herausforderungen bieten kann.
    Also - Fünfjährige hinein in die Schule? Ja - wenn die Schule fähig ist, ihnen gerecht zu werden. Nein - wenn die Schule bei ihnen 'Schulfähigkeit' voraussetzt. Schule kann so gestaltet sein, dass sie Fünfjährige in ihrer Entwicklung voran bringt. Leider ist Schule mancherorts noch immer so, dass sie auch Acht- und Neunjährige in ihrer Entwicklung behindert. Dies gilt es zu beachten, bevor wir die Fünfjährigen zum Schulbesuch verpflichten."

    Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen begrüßen wir grundsätzlich die Richtung der jetzt angestrebten Reformen: frühere Förderung bei gleichzeitigem Abbau selektiver Maßnahmen wie Sitzenbleiben oder Zurückstellung von der Einschulung. Allerdings ist es dringend notwendig, darauf aufmerksam zu machen, dass es allein mit Strukturveränderungen (längere tägliche Schulzeit, Vorverlagerung der Einschulung) nicht getan ist, sondern dass diese Veränderung mit Konzepten einer kindgerechten Pädagogik verknüpft werden müssen. Dies bedeutet vor allem:

    - Gerade bei fünf- bis zehnjährigen Kindern muss die Ganztagsschule mehr sein als in den Nachmittag hinein verlängerter Unterricht. Hier müssen Lehrerinnen, Erzieherinnen und Eltern gemeinsam Konzepte entwickeln, in denen sich Spielen, Lernen und Bewegung kindgemäß abwechseln. Dies erfordert auch eine entsprechende Ausstattung der Schulen (z.B. Spielbereiche) und eine darauf bezogene Fortbildung der Lehrerinnen und der Erzieherinnen.

    - Wenn Fünfjährige regelhaft die Schule besuchen, muss die Grundschule noch stärker als bisher ein Ort sein, an dem die Neugier, aber auch das Spielbedürfnis der Kinder zum Ausgangspunkt gemeinsamer Entdeckungen gemacht wird. Die Grundschule muss sich in ihrer pädagogischen Arbeit noch stärker als bisher darauf einlassen, bei ganz unterschiedlichen Lern- und Leistungsfähigkeiten der Kinder anzusetzen. Und sie wird mit Lerngruppen arbeiten müssen, die ein noch höheres Maß an Heterogenität aufweisen. Angesichts dieser Perspektive ist eine Reduzierung der Klassenfrequenzen im Grundschulbereich (z. Zt. 23,7 Kinder pro Klasse in NRW) unumgänglich.

    - Ein Vorschlag, der allein auf eine Vorverlagerung der Einschulung um ein halbes Jahr zielt, erweitert nicht die Lernzeiten der Kinder. Vielmehr wird damit - bei gleicher Dauer der Grundschule - auch der Beginn der Sekundarschulzeit (und damit die Übergangsauslese) um ein halbes Jahr vorverlagert. Ein zusätzlicher Förder-effekt kann so kaum entstehen. Deshalb plädieren wir für ein zusätzliches Vorschuljahr der Fünfjährigen, das sich - wie die Laborschulerfahrungen zeigen - sehr gut in eine reformierte Grundschule integrieren lässt.

    Dr. Susanne Thurn, Schulleiterin der Laborschule und
    Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann, Wissenschaftlicher Leiter der Laborschule, Mitglied des nationalen PISA-Konsortiums

    Kontakt: Laborschule an der Universität Bielefeld, Universitätsstraße 21, 33615 Bielefeld, Telefon: 0521/1064549 oder 1062881, e-mail: irene.demmer-dieckmann@uni-bielefeld.de

    Ein Foto von Prof. Dr. Klaus-Jürgen Tillmann ist abrufbar unter: www.uni-bielefeld.de | Aktuelles | Pressemitteilungen | Pressemitteilung Nr. 22/2002.


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    An der Laborschule werden bereits fünfjährige Kinder eingeschult. In einer jahrgangsgemischten Gruppe lernen sie gemeinsam mit Sechs- und Siebenjährigen.
    An der Laborschule werden bereits fünfjährige Kinder eingeschult. In einer jahrgangsgemischten Grupp ...

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    Fünf-, sechs- und siebenjährige Kinder setzen in der Druckerei der Eingangsstufe selbstgeschriebene Texte. Gemeinsam lernen sie von und mit einander in jahrgangsgemischten Gruppen in der Laborschule.
    Fünf-, sechs- und siebenjährige Kinder setzen in der Druckerei der Eingangsstufe selbstgeschriebene ...

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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Pädagogik / Bildung
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft
    Deutsch


     

    An der Laborschule werden bereits fünfjährige Kinder eingeschult. In einer jahrgangsgemischten Gruppe lernen sie gemeinsam mit Sechs- und Siebenjährigen.


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    Fünf-, sechs- und siebenjährige Kinder setzen in der Druckerei der Eingangsstufe selbstgeschriebene Texte. Gemeinsam lernen sie von und mit einander in jahrgangsgemischten Gruppen in der Laborschule.


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