In Deutschland erleiden etwa 1,6 Millionen Menschen jährlich einen Knochenbruch. Über zehn Prozent dieser Frakturen heilen nicht adäquat aus. Dies stellt für die Patienten und das Gesundheitssystem eine enorme Belastung dar. Um die Brüche künftig erfolgreich und dauerhaft auszuheilen, untersuchte Dr. Jörg Holstein vom Universitätsklinikum des Saarlandes mit seiner Arbeitsgruppe Einflussfaktoren, die den Erfolg der Frakturheilung potentiell beeinflussen. Für seine erfolgversprechende Erkenntnisse erhielt er im Rahmen des Deutschen Kongresses für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) den Hans-Liniger-Preis 2011 der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU).
Der Krankenhausaufenthalt eines Patienten mit einer Beinfraktur beläuft sich auf durchschnittlich 15 Tage. „Das ist weitaus länger als der Gesamtdurchschnitt aller anderen Krankenfälle an deutschen Kliniken zusammen“, erläutert Professor Dr. med. Tim Pohlemann, Präsident der DGU. „Um Patienten und Gesundheitssystem zu entlasten, ist es unverzichtbar, neue Therapien zu entwickeln, die die Liegedauer der Betroffenen reduzieren. Das gilt insbesondere für schlecht heilende Brüche. Hierzu werden die Erkenntnisse der aktuellen Forschungsansätze von Jörg Holstein enorm beitragen.“ Der Preisträger und Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum des Saarlandes untersuchte in experimentellen Versuchen an Mäusen die Wundheilung bei Knochenbrüchen. Er entdeckte dabei, dass bislang wenig berücksichtigte molekularbiologische Vorgänge im Körper wegweisend für Heilung und Nicht-Heilung sind.
In einer ersten Studie untersuchte die Arbeitsgruppe den Einfluss von Erythropoietin (EPO) auf die Wundheilung. Dieses Wachstumshormon ist für die Versorgung der Wunde mit roten Blutkörperchen verantwortlich. Bisherige Studien konnten bereits in einer Vielzahl von Gewebstypen positive Effekte von EPO auf Wachstum und Versorgung von Zellen und Gewebe sowie dessen entzündungshemmenden Einfluss nachweisen. Die Arbeitsgruppe um Holstein stellte fest, dass EPO ebenfalls bei der Frakturheilung von zentraler Bedeutung ist. Bei Mäusen, denen die Forscher EPO gezielt auf die Wunde auftrugen, konnte eine deutlich bessere Wundheilung festgestellt werden. Daraus ergibt sich ein neuer Therapieansatz für eine medikamentöse Behandlung von schlecht heilenden Frakturen.
Darüber hinaus entdeckten die Experten, dass Rapamycin (RAPA) eine besonders hemmende Rolle bei der Frakturheilung einnimmt. Ärzte setzen dieses Immunsuppressivum vorwiegend in der Tumortherapie ein. Dort soll es die Lymphozytenteilungsrate reduzieren und den Wachstumsfaktor VEGF sowie die Neuentstehung von Blutgefäßen hemmen, um das Tumorwachstum zu stoppen. VEGF ist jedoch eines der Schlüsselmoleküle im Rahmen der Gefäßneubildung auch während der Knochenbruchheilung. In einer weiteren, pharmakologischen Studie konnte Holstein daher feststellen, dass RAPA die Knochenbruchheilung massiv beeinträchtigt. Das Zellwachstum sei stark eingeschränkt und die Gefäßneubildung im Frakturkallus beträchtlich gestört, so die Studie. Wird ein Krebs-Patient mit RAPA behandelt, kann dies sich auf seinen Knochenstoffwechsel negativ auswirken. Auch im Falle eines Bruches kommt es dadurch zu einem langwierigen Knochenheilungsprozess. Dies müsse in der Therapie solcher Patienten künftig Berücksichtigung finden.
Eine weitere Erkenntnis der Arbeitsgruppe gilt Homocystein (HCY), einem Nebenprodukt der Aminosäure Methionin, das die Knochenheilung negativ beeinflusst. Ein nahrungsbedingter Mangel an B-Vitaminen kann einen Zuwachs dieses Blutbestandteils verursachen. Laut bisheriger Studien führt dies wiederum zu einem gestörten Knochenstoffwechsel, brüchigen Knochen und einer schlechten Frakturheilung. Holstein wies in seiner Untersuchung jedoch nach, dass lediglich ein hochgradiger Überschuss an HCY, verursacht durch eine HCY-reiche Diät, die Frakturheilung kritisch beeinträchtige. Ein mäßiger HCY-Überschuss durch einen leichten Vitamin B-Mangel habe hingegen keinen wesentlichen Einfluss auf die Knochenbruchheilung. Daher sei ein leichter Vitamin-B-Mangel, wie er in westlichen Ländern zu bis zu 45 Prozent vorliege, nicht ausschlaggebend für die Knochenheilung, wie bislang befürchtet.
„Durch die Ergebnisse dieser Arbeit konnte erstmals die Bedeutung der drei Faktoren EPO, RAPA und HCY für die Knochenbruchheilung aufgezeigt werden“, resümiert Professor Pohlemann, Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum des Saarlandes. „Die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse bilden die Grundlage für weitere Studien zur Diagnostik und Behandlung der gestörten Knochenbruchheilung.“
Der Hans-Liniger-Preis wird jährlich auf dem DKOU von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) für besondere Leistungen auf den Gebieten Unfallheilkunde, Versicherungs-, Versorgungs- und Verkehrsmedizin oder deren Grenzgebieten verliehen und ist mit 5 000 Euro dotiert. Der DKOU fand vom 25. bis 28. Oktober 2011 in Berlin als gemeinsamer Kongress der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC), der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) und des Berufsverbandes der Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie e. V. (BVOU) statt. Er ist der größte europäische Kongress in diesem Bereich, zu dem 11.000 Fachbesucher kamen. Experten diskutierten hier die neuesten Entwicklungen in der Orthopädie und Unfallchirurgie. Die Themen reichten von der Schwerverletztenversorgung, den Strukturen der Notaufnahmen und der Katastrophenmedizin über Implantatversorgung und Rehabilitation bis hin zu rheumatischen und degenerativen Erkrankungen sowie Osteoporose.
Quelle:
Jörg H. Holstein, M.D. et al., Development of a Reliable Non-Union Model in Mice, JOURNAL OF SURGICAL RESEARCH: VOL. 147, NO. 1, JUNE 1, 2008
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