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15.03.2002 16:43

Zum Tode von Hans-Georg Gadamer

Dr. Michael Schwarz Kommunikation und Marketing
Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

    Am 13. März 2002 ist in Heidelberg der Philosoph Hans-Georg Gadamer gestorben - Er zählt zu den prägenden Gestalten der Philosophie des 20. Jahrhundert - Seit 1949 lehrte er als Nachfolger Karl Jaspers' an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

    Am 13. März 2002 ist in Heidelberg der Philosoph Hans-Georg Gadamer gestorben, wenige Wochen, nachdem er seinen 102. Geburtstag feiern konnte. Hans-Georg Gadamer zählt zu den prägenden Gestalten der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Seit langem gilt er als Klassiker, nicht nur in Deutschland, sondern ebenso im romanischen und angelsächsischen Sprachraum. Gadamers Denken befruchtet heute Philosophen und Geisteswissenschaftler in allen zivilisierten Ländern der Welt, es beeinflußte Denker ganz verschiedener Ausrichtungen von Derrida bis Habermas und wurde in nahezu allen Geisteswissenschaften rezipiert, besonders intensiv in den Literaturwissenschaften.

    1900 in Marburg geboren, studierte Gadamer in den intellektuell erregten und erregenden Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Philosophie und Klassische Philologie. Bestimmt war der Geist jener Jahre nach dem Niedergang der neukantianischen Schulphilosophie von der machtvoll aufsteigenden Phänomenologie Husserls und Schelers sowie von der von Dilthey und Bergson ausgehenden Lebensphilosophie, dazu kam die Wirkung Kierkegaards, Strömungen, die auch Gadamer beeinflußten. Entscheidend wurde aber die Begegnung mit Martin Heidegger. Diese Prägung verbindet sich bei Gadamer mit einer lebenslangen Auseinandersetzung mit der Philosophie der Antike. Gadamers Doktorarbeit und seine Habilitationsschrift galten Platon, noch seine letzten Bücher behandeln den Anfang der Philosophie bei den Vorsokratikern. Auch Gadamers richtungsweisendes Hauptwerk "Wahrheit und Methode", 1960 zuerst erschienen, erwuchs aus dem lebendigen Umgang mit dem Denken der Antike, aus der Erfahrung, daß die alten Texte zu uns sprechen, wenn wir uns nur auf sie einlassen. Nach der Habilitation wirkte Gadamer zunächst als Privatdozent in Marburg, 1939 wurde er Professor in Leipzig, wo er 1946 unter schwierigsten Bedingungen das Amt des Rektors übernahm. Gadamers Versuch, der Wissenschaft nach ihrer ideologischen Vereinnahmung durch die Nazis unter den neuen kommunistischen Machthabern einen Freiraum zu schaffen, war zum Scheitern verurteilt. 1947 ging er als Professor nach Frankfurt, zwei Jahre später als Nachfolger von Karl Jaspers nach Heidelberg, wo er mehr als ein halbes Jahrhundert wirkte, weit über seine Emeritierung (1968) hinaus, so daß heute Heidelberg in aller Welt mit dem Namen Gadamers verbunden wird.

    Bestimmend für Gadamers Philosophie wurde Heideggers Frage nach dem Sein, seine Analyse des Daseins als eines Sich-Verstehens. Gadamers Vertrautheit mit den Griechen erlaubte es ihm aber, kritisch Distanz zu halten zu Heideggers Deutung der griechischen Anfänge der Philosophie und zu der darauf aufgebauten düsteren Diagnose des Geschicks der europäischen Kultur als einer Verhängnisgeschichte.

    Heideggers Denken wurde durch die Frage bewegt, was die ursprüngliche Erfahrung der Wahrheit war, die sich bei den frühen Denkern und Dichtern der Griechen artikulierte, und welche Bedeutung jene Wendung des griechischen Denkens, die bei Platon und Aristoteles zur Entstehung der Metaphysik führte, für die Geschichte Europas hatte. Gadamer teilt mit Heidegger die Einsicht in die bestimmende Macht des Anfangs, aus der die bleibende Aktualität der griechischen Philosophie folgt, die kein bloß historisches, einfach vergangenes Phänomen ist. Zwar ist die Antike ein Gegenstand historischer Forschung wie andere Epochen der Geschichte auch. Aber zugleich ist sie viel mehr als das: Sie ist die Maßstäbe gebende Wurzel der europäischen Kultur, der diese ihre Lebendigkeit verdankt, wie die zahllosen Renaissancen seit dem Ende der Antike beweisen, ebenso die gewaltige Faszination, die das antike Denken auf die Philosophie der Gegenwart ausübt. Gadamers Zugang zu den Griechen unterscheidet sich von dem Heideggers nicht allein dadurch, daß Gadamer das Handwerk der philologischen Methode mit wahrer Meisterschaft beherrschte. Er hat sich vor allem von Heideggers Fixiertheit auf die Vorsokratiker gelöst. Dadurch weitet sich der Blick auf den Reichtum der antiken Philosophie in ihrer ganzen Breite.

    Gadamer hat den von der Reformation geschaffenen Mythos zerstört, dem zufolge die unverhüllte Wahrheit nur in der Authentizität des ersten Anfangs zu finden ist, während alles Folgende daran gemessen nur noch Verfall und Entstellung bedeutet. Nach diesem Modell hatten bekanntlich die Reformatoren das Verhältnis der im Neuen Testament greifbaren Anfänge des Christentums zur kirchlichen Tradition des Katholizismus gedeutet; und genau dasselbe Modell bestimmt auch noch Heideggers Deutung der Griechen. Gadamer zeigt demgegenüber, daß wir auch und gerade den Anfang nur darum verstehen können, weil wir in einem lebendigen Traditionszusammenhang mit ihm verbunden sind; die Tradition, die uns vom Anfang trennt, verbindet uns zugleich mit ihm. Die Einsicht in die Fruchtbarkeit dieses Traditionszusammenhangs, in dem wir als geschichtliche Wesen immer schon stehen, ist ein zentrales Motiv von Gadamers Denken. Darum ist weder der Anfang noch die Tradition je bloße Vergangenheit, sondern beide bleiben gegenwärtig, weil wir uns nur aufgrund der in ihnen vorgezeichneten Bahnen selbst zu verstehen und in der Welt zu orientieren vermögen. Als geschichtlich verfaßte Wesen können wir niemals von einem Nullpunkt ganz neu anfangen. Darum ist für uns die griechische Antike als der Anfang der europäischen Kultur und der Ausgangspunkt der wichtigsten uns bestimmenden Traditionen von einem durch keine spätere Epoche aufzuwiegenden Gewicht.

    Gadamer entwickelt aus dieser Erfahrung der lebendigen Gegenwart der Tradition den äußerst fruchtbaren Gedanken der "Wirkungsgeschichte". Er geht aus von der Einsicht, daß wir einen philosophischen Gedanken, ein Kunstwerk oder auch einen religiösen, politischen oder sozialen Vorstellungskomplex niemals rein nur aus ihm selbst heraus verstehen können; vielmehr verstehen wir ihn ganz unvermeidlich immer schon im Lichte seiner Wirkungen, also in den Bahnen, in denen die Tradition, die uns mit ihm verbindet, ihn schon verstanden hat. Wir verstehen also die Tradition, aus der wir selber kommen, und den sie bestimmenden Anfang immer nur wechselseitig, in einem Zirkel, der den Anfang aus der von ihm ausgehenden Tradition und diese aus ihrem Anfang versteht. Dieser Zirkel eröffnet einen Spielraum der Interpretation, der die Möglichkeit einschließt, das in der Tradition schon Verstandene immer wieder neu und anders zu verstehen, so daß unser Verstehen gerade kein Fortspinnen des immer schon Dagewesenen bedeutet.

    Die Dialektik des Verstehens, in der das Selbe immer auch anders verstanden werden kann, gründet in einer Unendlichkeit von Sinnbezügen, die in jedem Gedanken und jedem wirklichen Kunstwerk aufscheint. Diesen Sinnbezug, dem gemäß das Eine zugleich auch das Andere ist, nannten die Griechen "Logos"; für Platoniker wie für Christen war er der göttliche Grund der Welt. Logos meint aber auch Sprache, denn im Sprechen verknüpfen wir unvermeidlich das Eine mit dem Anderen, bewegen uns also immer schon innerhalb eines Sinnganzen, das jede sprachliche Äußerung trägt, weil es alle einzelnen Äußerungen zugleich umfaßt und übersteigt. Gadamers berühmtes Diktum: "Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache", meint diese Sinntotalität des Logos.

    Wenn Gadamer Sprache vom Logos her denkt, dann geht es ihm dabei also gerade nicht um die rational erwünschte Eindeutigkeit unserer Bezeichnungen und Begriffe, sondern um die Erfahrung der Unausschöpflichkeit des Sinns, die ein wirkliches Gespräch ermöglicht, die Begegnung mit dem Anderen im Gemeinsamen der Sprache und die Erfahrung der Bereicherung durch solche Begegnung. Das war Gadamers zentrales Anliegen. Von hier aus erschloß er der Gegenwart die Einsicht in die Aktualität der lange vernachlässigten praktischen Philosophie und der Rhetorik der Antike. Von hier aus versteht sich auch Gadamers lebenslange besondere Liebe zu Platon, der den Zusammenhang des Einen mit dem Anderen im Logos wie kein zweiter artikuliert hat in seinen Dialogen, die sprachliche Kunstwerke von höchster Vollendung sind.

    Für Gadamer gründet die Aktualität der Antike vor allem anderen in der Entdeckung des Logos, die unsere Kultur, ihr philosophisches und theologisches Denken, ihre Kunst und Literatur wie sonst nichts geprägt hat. Indem er die Seinsfrage auf den Logos und seine dialektische Struktur verlagert, greift Gadamer hinter seinen Lehrer Heidegger zurück auf jenen anderen großen Denker, der die Zuwendung der modernen Philosophie zur Antike vor zwei Jahrhunderten begründet hat: nämlich auf Hegel. Hegel verdanken wir die Einsicht, daß Philosophie von ihrer Geschichte nicht ablösbar ist: "Das Studium der Geschichte der Philosophie ist das Studium der Philosophie selbst". Es ist aber nicht der Systemdenker Hegel mit seinem Anspruch auf absolutes Wissen, der Gadamers Interesse auf sich zog und für Gadamers Hermeneutik zum Kronzeugen avancierte, sondern der Denker, der als erster seit Jahrhunderten wieder verstanden hatte, was Logos eigentlich meint: eine Einheit, in der das Eine zugleich das Andere ist und die genau darum unendlich und lebendig ist. Es ist diese Einsicht in das dialektische Wesen des Logos, die Hegel zur Ausarbeitung seiner dialektischen Methode führte und ihm zugleich ein genuines Verständnis der antiken Philosophie erlaubte, das sich an ihren einflußreichsten Gestalten Platon, Aristoteles und Plotin bewährt. Gerade Hegel, der die Geschichte der Philosophie als Fortschritt begreifen wollte, fand gleichwohl die wichtigsten und tiefsten Einsichten aller Philosophie schon bei den Griechen. Gadamer hat wie kein zweiter auf diesen Bezug Hegels zur Antike hingewiesen.

    Was Hegel mit den klassischen Gestalten des antiken Denkens verbindet und was beide von Gadamer trennt, ist ihr Verständnis von Philosophie als Metaphysik: Philosophieren ist für Hegel wie für Platon und die Neuplatoniker die denkende Erhebung zum Absoluten und das Begreifen der Wirklichkeit im Lichte ihres absoluten Grundes. Dagegen versteht sich Gadamers Hermeneutik trotz der metaphysischen Motive, die latent oder offen in ihr wirksam sind, selber nicht als Metaphysik. Ihr Grund ist die Sprache in ihrer Geschichtlichkeit und nicht der absolute Geist. Doch indem sie Sprache als Logos begreift, der für Hegel wie für Plotin das Wesen des Geistes ausmacht, hält sie wenigstens den Zugang zum Verständnis dessen offen, was Metaphysik war und vielleicht auch wieder sein könnte. Aber trotz dieser Offenheit beharrte Gadamer auf der Endlichkeit unseres Denkens und Verstehens. Darin zeigt sich erneut der ihn bestimmende Einfluß Heideggers, der das Ganzseinkönnen des menschlichen Daseins von seinem Ende, vom Tod her verstand. Nur im "Vorlaufen zum Tode" begreifen wir unser Leben als ein in sich vollendetes Ganzes. Das war eine entschiedene Absage an die Überzeugung von der Unsterblichkeit der Seele, wie sie die Metaphysik seit Platon gelehrt hatte. Gadamers Leben, das ein ganzes Jahrhundert umspannte, hat sich nun vollendet. Sein Denken aber bleibt lebendig; es ist selber ein Teil jenes geschichtlich sich entfaltenden Sinnganzen des Logos, dem Gadamers Denkanstrengung galt.

    Jens Halfwassen, Heidelberg


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Philosophie / Ethik, Religion
    überregional
    Personalia
    Deutsch


     

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