Ein spektakulärer Fund kam im Januar 1987 in Würzburg zum Vorschein: Beim Abriss eines Hauses wurden zahlreiche mittelalterliche jüdische Grabsteine gefunden. Insgesamt 1455 Stück sollten es am Ende der Bergungsarbeiten sein – ein weltweit einzigartiges Zeugnis der jüdischen Geschichte des Mittelalters. Genau 25 Jahre nach der Entdeckung wird nun die dreibändige wissenschaftliche Publikation über die „Würzburger Judensteine“ präsentiert.
Am 9. Januar 1987 rückten im Würzburger Stadtviertel Pleich Bagger an, um ein früheres Gebäude der Firma Landelektra abzureißen. Das Haus stand gegenüber der Kirche St. Gertraud und war ehemals Teil einer Klosterkirche. Im Schutt des Abrisses entdeckte man zahlreiche jüdische Grabsteine, die in die Mauern des Hauses eingebaut waren.
Nach einem vorübergehenden Stopp der Abrissarbeiten und ersten fotografischen Dokumentationen wurden die Steine nach und nach geborgen. Später wurden sie auf den Rotkreuzhof gebracht, wo sie 19 Jahre lang lagern sollten. Dort begann auch die systematische Erforschung der „Judensteine“, wie die Würzburger den Fund bald nannten. Heute sind die Steine im Neuen Würzburger Jüdischen Gemeindezentrum „Shalom Europa“ untergebracht.
Bei der Erforschung der jüdischen Grabsteine spielte Professor Karlheinz Müller von der Katholisch-Theologischen Fakultät eine maßgebliche Rolle. Mit Unterstützung durch Universitätspräsident Theodor Berchem und den Universitätsbund sorgte er dafür, dass die wissenschaftliche Bearbeitung der Grabmale anlaufen konnte. Zuerst wurden die Steine registriert, gesäubert und auf Fotos dokumentiert sowie schließlich digitalisiert. Allein an dieser Aufgabe wirkten insgesamt 175 Studierende mit.
Bei der ersten inhaltlichen Sichtung der hebräischen Inschriften half Rabbiner Simcha Bamberger aus Manchester. Ab 1996 finanzierte dann die German-Israeli Foundation zwei Forschungsprojekte, an denen neben Karlheinz Müller die Professoren Simon Schwarzfuchs (Tel Aviv, Paris), Dr. Rami Reiner (Beer Schäva) und Dr. Edna Engel von der Nationalbibliothek in Jerusalem mitwirkten.
Was die Erforschung der Grabsteine erbrachte
Die Grabmale stammen aus den Jahren 1147 bis 1346. Damit belegen sie rund 250 Jahre Geschichte, von den Anfängen der Jüdischen Gemeinde in Würzburg um 1100 bis zum Pogrom des Jahres 1349. Damals wütete in Europa die Pest, und auch in Würzburg wies man die Schuld daran einer „Brunnenvergiftung“ durch Juden zu: Am 21. April 1349 steckten die Würzburger Bürger daher das Judenviertel in Brand und ermordeten seine Bewohner.
„Die Erkenntnisse, die wir aus den Grabsteinen gewonnen haben, lassen zum Beispiel die Anfänge der jüdischen Gemeinde in Würzburg um 1100 in einem neuen Licht erscheinen“, so Professor Müller. Es sei nun sehr wahrscheinlich, dass es Mitglieder der im Jahr 1096 von durchreisenden Kreuzfahrern vernichteten Jüdischen Gemeinde in Mainz waren, welche die Würzburger Gemeinde gründeten. Vor allem aber zeigten die Grabsteine Würzburg im 12. und 13. Jahrhundert als renommierten und international gesuchten Standort einer führenden jüdischen Gemeinde, als eines der maßgebenden Zentren jüdischen Lebens in Europa und als einen der europäischen Mittelpunkte des „Talmud Tora“.
Die Publikation über die jüdischen Grabsteine
Das dreibändige Werk „Die Grabsteine vom Jüdischen Friedhof in Würzburg aus der Zeit vor dem Schwarzen Tod (1147-1346)“ ediert die Grabsteine aus der Pleich sowie alle übrigen in Würzburg und Umgebung gefundenen jüdischen Grabmäler aus dem Mittelalter. Damit behandelt es „die größte Hinterlassenschaft aus einem mittelalterlichen Judenfriedhof weltweit“, so die Herausgeber. Es umfasst 2500 Seiten und 1800 Bilder.
Der erste Band befasst sich unter anderem mit dem Fund der Grabsteine und der Geschichte ihrer Erforschung. Er stellt auch die älteren, aber bislang noch nicht veröffentlichten Sammlungen mittelalterlicher jüdischer Grabsteine aus Würzburg und seinem Einzugsgebiet vor. Zudem beschreibt der Band die Entwicklung jüdischer Friedhöfe überhaupt und die Geschichte des großen Judenfriedhofs in Würzburg (1147-1576) im Besonderen. Außerdem geht er auf die Geschichte der Würzburger Judengemeinde im Zeitraum der mittelalterlichen Grabsteine ein.
Im Zentrum des zweiten und dritten Bandes stehen dann die einzelnen Grabmale und ihre Inschriften. Zu jedem der 1455 Steine gibt es eine ausführliche deutsche und eine knappere neuhebräische Kommentierung. Die Edition schließt mit hebräischen und deutschen Indices (Namen, Orte, Schriftbelege, Stilistik der Segenswünsche für die Toten).
Zur Person: Professor Karlheinz Müller
Von 1972 bis 2004 hatte Professor Dr. Dr. Karlheinz Müller an der Universität Würzburg den Lehrstuhl für Biblische Einleitung und Biblische Hilfswissenschaften (Biblische Literatur- und Zeitgeschichte) inne. Hier war er unter anderem verantwortlich für die wissenschaftliche Bearbeitung der „Judensteine“ aus der Pleich. Seit September 2004 ist Professor Müller emeritiert.
Die Schwerpunkte seiner sonstigen wissenschaftlichen Arbeit: zahlreiche Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte des Urchristentums, zur Geschichte der frühjüdischen Apokalyptik und zur Entwicklung der „Halacha“ im Mittelmeerraum zwischen der Perserzeit und der Zerstörung des Zweiten Tempels. Von Müller stammt auch die Publikation „Die Würzburger Judengemeinde im Mitteialter“ (Würzburg 2004, vergriffen seit 2005).
„Die Grabsteine vom jüdischen Friedhof in Würzburg aus der Zeit vor dem Schwarzen Tod (1147 – 1346)“, herausgegeben von Karlheinz Müller (Würzburg), Schim’on Schwarzfuchs (Bar Ilan: Tel Aviv und Paris) sowie Avraham (Rami) Reiner (Be’er Scheva), Willkomm-Verlag Stegaurach 2012, Reihe IX (Darstellungen aus der fränkischen Geschichte), 3 Bände, ISBN 978-3-86652-958-8. Preis: 240 Euro, Subskriptionspreis 198 Euro bis 31. Januar 2012.
http://www.wikommverlag.de/ Informationen des Verlags zur Publikation über die Grabsteine vom mittelalterlichen jüdischen Friedhof in Würzburg
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, jedermann
Geschichte / Archäologie, Religion
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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