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02.10.1997 00:00

Kolloide sind Substanzen voller Faszination

Monika Roegge Pressestelle Standort Essen
Universität Essen (bis 31.12.2002)

    322/97 1. Oktober 1997

    Nanotechnologie, Materialforschung, regenerierbare und nachwachsende Rohstoffe sowie die Sanierung kontaminierter Böden gehörten zu den Diskussionspunkten der Kolloidtagung 1997, die in der Zeit von Montag, 29. September, bis Mittwoch, 1. Oktober, an der Universität-Gesamthochschule Essen stattfand. Für die Deutsche Kolloidgesellschaft hatten die Professoren Dr. Gerhard Peschel (Physi-kalische Chemie) und Dr. Heinz Rehage (Physikalische Chemie mit dem Schwerpunkt Kolloidchemie) die Organisation übernommen. In einer Pressekonferenz erläuterten Peschel und Rehage sowie der Vorsitzende der Kolloidgesellschaft, Professor Dr. Milan J. Schwuger (Jülich) mit weiteren Präsidiumsmitgliedern gestern (Mittwoch, 1. Oktober) die Bedeutung der Kolloidchemie als zukunftweisende Schlüsseltechnologie.

    Neu ist die Beschäftigung mit dem Fach keineswegs. Bereits seit mehr als hundert Jahren wird es an Universitäten und Hochschulen bearbeitet, aber trotz ihrer großen Bedeutung für Wissenschaft und Praxis finden Themen der Kolloidchemie nur selten Eingang in die Ausbildung der Studenten.

    Als Gründungsvater dieses Wissenschaftszweiges, dessen Name sich vom griechischen "kolla" - Leim oder Klebstoff - ableitet, gilt Thomas Graham. Er erkannte bereits 1861, daß leimartige Substanzen interessante Eigenschaften besitzen, die sich von denen normaler Moleküle eindeutig unterscheiden. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die behinderte Diffusion durch Membranen oder Haut (Dialyse). Kleine Moleküle wie anorganische Salze können ohne weiteres durch natürliche oder künstliche Membranen wandern, während Makromoleküle in den engen Poren steckenbleiben und so zu Verstopfungsprozessen führen. Graham konnte deshalb Kolloide von "normalen" Substanzen trennen, und seine Methode hat sich wegen der einfachen Anwendung bis heute erhalten.

    Kolloidale Systeme haben sowohl Ähnlichkeit mit echten Molekülen als auch mit großen Partikeln, aber sie besitzen darüber hinaus ganz spezielle Eigenschaften. Die klassischen Anwendungsbereiche kolloidaler Systeme basieren auf der verhältnismäßig großen Oberfläche der dispergierten Partikel, auf Grenzflächenerscheinungen, Adsorptionsprozessen und der Bildung übergeordneter Phasen. Die Kleinheit der besonders fein verteilten Partikel verleiht den Kolloiden die Fähigkeit zu ungewöhnlichem Verhalten, etwa die Fähigkeit zur Selbstorganisation. Dieses Phänomen tritt immer dann auf, wenn die Partikelgröße zwischen einem Nanometer und einem Mikrometer liegt. Die Wissenschaftler beobachten es mit brennendem Interesse, denn der Selbstorganisation von Kolloiden könnte es eines Tages zu verdanken sein, wenn Maschinen sich selbst reparieren. Noch ist das Zukunftsmusik, aber unrealistisch ist der Gedanke keineswegs.

    Im wesentlichen gibt es drei Substanzklassen von Kolloiden: die Assoziationskolloide, die Dispersionskolloide und die Makromoleküle (Polymere). Zur ersten Gruppe gehören die Tenside, zu denen alle gängigen Wasch- und Reinigungsmittel und manche Farbstoffmoleküle zählen.

    Assoziationskolloide wurden bereits vor mehr als vier Jahrtausenden von den Sumerern benutzt. Im Haushalt kennt sie jedermann in Form von Shampoos, Schaumbädern oder Kosmetika, aber auch in der Industrie sind Tenside weit verbreitet. Schäume oder Emulsionen lassen sich zum Beispiel nur mit Hilfe von Tensiden herstellen, und auch zahlreiche Nahrungsmittel wie Brotteig oder Milch sind nur deshalb "stabil", weil sie natürliche Tenside enthalten.

    Durch die Verwendung geeigneter Assoziationskolloide ist es auch möglich, große Mengen Öl in Wasser zu lösen und umgekehrt. Alle Wasch- und Reinigungsprozesse beruhen auf dieser Grundlage. Es liegt deshalb auf der Hand, daß die Kolloidchemie ein Lieblingskind der Umweltforschung geworden ist. Viele organische Schadstoffe wie Benzin oder Altöl, Schmierfette, halogenierte aromatische Verbindungen und polyzyklische Kohlenwasserstoffe (PAK) lassen sich nur schlecht in Wasser lösen und reichern sich deshalb an festen Grenzflächen an. Im Gebiet der Bundesrepublik sind bisher etwa 80 000 Altlastenflächen erfaßt, auf denen früher Tankstellen, fettverarbeitende Industriebetriebe oder Raffinerien betrieben wurden. Viele dieser Grundstücke sind mit hydrophoben (unpolaren) Substanzen verseucht - eine latente Gefahrenquelle. Mit Hilfe von Tensiden lassen sich die Schadstoffe aber wieder auswaschen, so daß eine erneute Bebauung und Nutzung dieser Flächen erfolgen kann. Umgekehrt ist es auch möglich, mit Hilfe spezieller Kolloide die Altlast so abzusichern, daß ein Auswaschen der Schadstoffe verhindert wird. Die Mobilisierung und Fixierung hydrophober Schadstoffe durch kolloidale Systeme findet in sehr verschiedenen Bereichen Anwendung; insbesondere im Umweltschutz ist die Möglichkeit zur Entwicklung wirksamer, aber schonender Sanierungskonzepte gegeben. Anläßlich der Kolloidtagung war dem Thema deshalb ein Sondersymposium (Donnerstag, 2. Oktober) gewidmet.

    Neben der Beschäftigung mit den grenzflächenaktiven Tensiden lag der Schwerpunkt der Kolloidtagung auf der Untersuchung der Struktur, der Dynamik und der Eigenschaften von Dispersionen. Dispersionen treten in Form von Farben, Lacken, Klebstoffen, Gelen, Pasten oder schaltbaren Flüssigkeiten auf. Medizin, Kosmetik und Umweltschutz gehören zu den populärsten Anwendungsgebieten. Typische Aufgaben, die sich mit dispersen Kolloiden bewältigen lassen, sind die Reinigung von Luft, Abwasser oder kontaminierten Böden, der Pflanzenschutz oder die Entwicklung neuer medizinischer und pharmazeutischer Präparate. Besonders interessant ist zur Zeit die Synthese von Nanopartikeln. Diese Systeme bilden zum Beispiel die Bausteine mikroskopisch kleiner Maschinen, zu denen Motoren, Pumpen oder auch Ventile gehören. Auch elektronische Bauteile wie Transistoren, integrierte Schaltkreise oder lichtemittierende Dioden lassen sich durch kolloidale Techniken stark verkleinern, was dann zu besonders leistungsfähigen Apparaturen führt. Durch die geringe Größe kolloidaler Partikel treten oft bereits Quanteneffekte auf, wie sie für den atomaren Bereich typisch sind. Dadurch ergeben sich bei kolloidalen Halbleitern und Metallen neue, interessante Anwendungen für die nichtlineare Optik oder Elektronik. Auch für moderne Hochleistungskeramiken sind anorganische Kolloide von großer Bedeutung. Durch die Verwendung äußerst feinteiliger Partikel lassen sich Korngrenzen weitgehend vermeiden, so daß wesentlich stabilere Keramiken entstehen.

    Besonders fein verteilte Partikel können auch vom menschlichen Organismus besser aufgenommen werden. Kolloide lassen sich deshalb als Trägersubstanzen für Medikamente einsetzen, so daß eine kontrollierte Abgabe an einem gewünschten Wirkungsort erfolgt. Das Verfahren entspricht weitgehend natürlichen Prozessen: In einer biologischen Zelle werden fast alle Substanzen durch sogenannte Stachelsaum-Vesikel (Liposomen) transportiert, die eine komplexe kolloidale Struktur besitzen.

    Zu den feinteiligen Substanzen gehören auch die sogenannten elektro-rheologischen Fluide. Sie sind dadurch charakterisiert, daß sich ihre Viskosität in elektrischen Feldern schlagartig ändert. Man kann die physikalischen Eigenschaften dieser Systeme innerhalb einiger Millisekunden praktisch auf Knopfdruck verändern. Dies ist interessant für automatische Antiblockiersysteme oder elektronisch gesteuerte Getriebekupplungen. Weitere Anwendungen betreffen Flugzeug-Enteisungsmittel, Hochleistungs-Katalysatoren, elektrisch leitende Kunststoffe oder die Synthese "intelligenter" Materialien.

    Aufgrund dieses breit gefächerten Einsatzspektrums sind Kolloide für zukunftsträchtige Technologien von enormer Bedeutung. Folglich gibt es einen großen Personenkreis, insbesondere im Ruhrgebiet mit seiner besonderen Umweltproblematik, der an einem intensiven Erfahrungsaustausch und an neuen Entwicklungen interessiert ist. Das erfuhren unmittelbar auch die Organisatoren der Kolloidtagung. Die Zahl der Teilnehmer interessierter Wissenschaftler und Praktiker übertraf mit rund 350 alle Erwartungen.

    Redaktion: Monika Rögge, Telefon: (02 01) 1 83-20 85

    Weitere Informationen: Professor Dr. Heinz Rehage, Telefon: (02 01) 1 83-39 87


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Chemie, Maschinenbau, Mathematik, Meer / Klima, Physik / Astronomie, Umwelt / Ökologie
    überregional
    Es wurden keine Arten angegeben
    Deutsch


     

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