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26.04.2002 11:49

75 Jahre Helmut Krauch: Systematischer Vor- und Querdenker

Ingrid Hildebrand Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Universität Kassel

    Helmut Krauch, im Jahre 1995 emeritierter Professor für System-Design an der Universität Kassel, begeht am 2. Mai seinen 75. Geburtstag. Der Nestor der Systemforschung in der Bundesrepublik feiert ihn in Heidelberg, der Stadt, in der seine ungewöhnliche wissenschaftliche Biographie begann und die ungeachtet aller nationaler und internationaler Aktivitäten immer sein Lebensmittelpunkt geblieben war.

    Kassel/Heidelberg. Helmut Krauch, im Jahre 1995 emeritierter Professor für System-Design an der Universität Kassel, begeht am 2. Mai seinen 75. Geburtstag. Der Nestor der Systemforschung in der Bundesrepublik feiert ihn in Heidelberg, der Stadt, in der seine ungewöhnliche wissenschaftliche Biographie begann und die ungeachtet aller nationaler und internationaler Aktivitäten immer sein Lebensmittelpunkt geblieben war.
    Krauch war als Denker und Forscher zeitlebens ein unerschrockener und charismatischer Pionier, der vor Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen ebenso wenig Halt machte wie vor Gräben zwischen Theorie und Praxis und seiner Zeit immer vorauseilte. Der promovierte und habilitierte Chemiker, der seine wissenschaftliche Karriere 1953 am Heidelberger Max-Planck-Institut begann, ging 1956 als Forschungs-Stipendiat an die Yale University in die USA und wurde Mitarbeiter am Atomforschungszentrum Brookhaven National Laboratory. Dies führte ihn bereits damals dazu, sich über naturwissenschaftliche Probleme hinaus mit Fragen der Technikfolgenabschätzung zu befassen. So wurde ihm schon 1958 nach seiner Rückkehr nach Deutschland von der deutschen Kernreaktor- und Bau-Betriebsgesellschaft - dem späteren Kernforschungszentrum Jülich - der Auftrag zuteil, ganzheitlich die Auswirkungen der Atomenergie auf die technische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zu untersuchen.

    Richtungsweisend für die Systemforschung
    Damit war Krauch bei der Systemforschung angelangt, deren Entwicklung und Siegeszug in Deutschland er ab Ende der 50er Jahre richtungsweisend bestimmte. Insbesondere als Gründer und Koordinator der Heidelberger Studiengruppe für Systemforschung erreichte er bald maßgeblichen Einfluss auf inhaltliche und institutionelle Weichenstellungen in der Forschungspolitik der Bundesrepublik. So wurde er 1963 zusammen mit Klaus von Dohnanyi, Horst Ehmke, Jürgen Habermas und Alexander Mitscherlich aufgefordert, in einer Wissenschaftlergruppe mitzuarbeiten, die Willy Brandt im Wahlkampf beraten sollte, eine Verbindung die 1969 - nach Bildung der sozialliberalen Bundesregierung - zur Entwicklung des Informationssystems ORAKEL (Organisierte Repräsentative Artikulation Kritischer Entwicklungslücken) für das Bundeskanzleramt führte, in das nun - nach den planungsfernen, eher gemütlichen Erhard- und Kiesinger-Kanzlerschaftsjahren - wissenschaftlicher und technischer Fortschritt Einzug halten sollte. ORAKEL sollte dabei die Aufgabe zufallen, Zukunftsbedürfnisse gesellschaftlicher Gruppen experimentell zu ermitteln und es so den politischen Entscheidern ermöglichen, langfristig sinnvolle und nachhaltig wirksame Projekte anzugehen und öffentlich zu vermitteln.

    ORAKEL für das Bundeskanzleramt
    In der Heidelberger Studiengruppe hatten Krauch und seine Mitstreiter für solche Projekte die Methodik der "maieutischen Systemanalyse" entwickelt, bei der sich der Systemforscher nach dem Vorbild der sokratischen "Hebammenkunst" gemeinsam mit dem Untersuchungsbereich auf einen systematisch-experimentellen Austausch- und Erkenntnisprozess einlässt, der in dialogischen Verfahren am Ende mögliche Lösungen hervorbringt. Als moderne Methoden dieser sokratischen Idee wurde u.a. das computergestützte Planspiel entwickelt, die maieutische Exploration von Systemeigenschaften sowie die systemanalytische Messung. Dass der Ansatz der Systemforscher, konstruktive Dialoge aufzubauen und vorhandenes Wissen der Beteiligten zu mobilisieren und zu verwerten, im machtbewussten Kanzleramt eines Horst Ehmke nicht lange vorhielt, wundert wenig. Krauchs Versuch, dort Strukturen aufzubauen, die durch Einbeziehung wissenschaftlich-technischen Sachverstands und verständliche öffentliche Umsetzung sich widersprechender Positionen einer kompetenteren Demokratie zu Gute kommen sollte, wurde dort jedenfalls nicht weiterverfolgt. Typisch für Krauch der Coup, mit dem er prompt reagierte: Er wechselte mit ORAKEL den Schauplatz vom Bundeskanzleramt in die Öffentlichkeit, genauer ins Fernsehen, wo sich ab 1971 im Dritten Programm des WDR Tausende von Zuschauern an ORAKEL-Experimenten beteiligten.

    Krauchs Computer-Demokratie und Beuys Kunstbegriff
    1972 erschien Krauchs Buch "Computer-Demokratie", nach seinen Büchern "Reaktionen der organischen Chemie", "Die organisierte Forschung" und "Systemanalyse in Regierung und Verwaltung" ein weiterer großer intellektueller Wurf und eines seiner bahnbrechenden Werke, deren Relevanz heute - 30 Jahre später - ungebrochen ist. Es ging ihm darum, über die modernen Kommunikationsmittel - heute vor allem das Internet - das Wissen, die Intelligenz, die Bedürfnisse und Wünsche, vor allem aber auch die Kompetenz aller Bürgerinnen und Bürger in Planungs- und Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Dies führte ihn auch in Berührung und kritischen Austausch mit Joseph Beuys, der die Zusammenarbeit mit Krauch suchte, obwohl dessen "Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung" ein anderes, eher schlichteres Demokratisierungskonzept verfolgte. Das Thema und die Ideen brachte Beuys im gleichen Jahr mit großer Resonanz auf der Kasseler "Dokumenta V" ein. Die Aktualität und Bedeutung jener Pionierarbeiten Krauchs wird erneut in der diesjährigen Kasseler "documenta 11" sichtbar, deren künstlerischer Leiter Ukwoi Enwezor sich konzeptionell auf die "unvollendete Demokratie" bezieht und darauf mit weltweiten Diskussionsforen reagiert.

    System-Design und regenerative Maschinen
    Derart unerschrockenes interdisziplinäres Wandern zwischen naturwissenschaftlich-technischen und künstlerisch-kreativen Welten war es auch, die Helmut Krauch im gleichen Jahr an die Universität Kassel führte, wo er bis zu seiner Emeritierung 23 Jahre intellektuell beheimatet war und als Professor für System-Design im Fachbereich Produkt-Design lehrte, ein Chemiker und Systemanalytiker also in der Kunsthochschule der Universität. Hier konnte er - dem offenen und innovativen Gesamthochschul-Konzept der neu gegründeten Kasseler Reformuniversität folgend - jenseits aller Begrenzungen wirken, sein Denken an mehrere Studenten-Generationen weitergeben und sich wissenschaftlich - in den 80er und 90er Jahren - mit seinen Studien über regenerative Maschinen noch einmal einem neuen Arbeitsschwerpunkt widmen, dessen Pioniergeist ebenso hochaktuell bleiben sollte. Insbesondere seine Projekte zur Entwicklung der Wasserstoff-Technologie wurden international - vor allem auch in Japan - sehr rasch aufgegriffen. In Kassel wirkt er noch immer, obwohl 1995 emeritiert, im Direktorium des renommierten Wissenschaftlichen Zentrums für Umweltsystemforschung mit, wirken seine Ideen und Impulse in der Forschung weiter.

    Heute lebt Helmut Krauch zumeist wieder in Heidelberg. Seinen Geburtstag wird er dort mit guten Freunden und gutem Essen und Trinken verbringen. Seine körperliche Verfassung macht ihm zunehmend zu schaffen, obwohl er mit der ihm eigenen Energie tapfer darüber hinweggeht. Und seine intellektuelle Schaffenskraft ist ungebrochen: Er ist systematisch unterwegs und schreibt an neuen Büchern.
    ba

    Kontakt und Information:
    Dr. Bernt Armbruster, Tel.: (0561) 804-2217, Fax: -7216, E-Mail: armbrust@uni-kassel.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Biologie, Chemie, Gesellschaft, Informationstechnik, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Politik, Recht
    überregional
    Personalia
    Deutsch


     

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