In einem offenen Brief haben die Mitglieder des Instituts für Migrationsforschung, Interkulturelle Pädagogik und Zweitsprachendidaktik (IMAZ) der Universität Essen zur PISA-Studie und dem bildungspolitischen Umgang mit ihren Ergebnissen Stellung genommen. Die Resolution wird von zahlreichen Wissenschaftlern und Instituten anderer Hochschulen in ganz Deutschland unterstützt. Sie hat folgenden - leicht gekürzten - Wortlaut:
In der öffentlichen Diskussion als Reaktion auf PISA wird oft der Eindruck geweckt, dass das schlechte Abschneiden Deutschlands im internationalen Vergleich ursächlich mit dem hohen Anteil an Migrantenkindern in den Schulen in Deutschland zusammenhänge. Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund werden in der Diskussion nicht als selbstverständlicher Teil der Gesamtschülerschaft, sondern als "Störfaktor" der schulischen Normalität behandelt. Faktisch aber lassen die PISA-Ergebnisse diese Interpretation keineswegs zu.
In dem am 5./6. Dezember 2001 in ihrer 296. Plenarsitzung vorgelegten "Maßnahmenkatalog" der KMK zur Verbesserung der schulischen Bildung in Deutschland entsteht der Eindruck, als ob mit speziellen Fördermaßnahmen für einzelne Schülergruppen wichtige bildungspolitische Probleme Deutschlands gelöst werden könnten.
Wir begrüßen, dass die KMK dem Problem der Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund mehr Aufmerksamkeit zuwendet. Wir unterstützen insbesondere, dass dabei die große Bedeutung des bislang vernachlässigten vorschulischen Bereichs ins Blickfeld kommt. Bei den anstehenden Reformanstrengungen sollten jedoch vorliegende wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt werden.
Sprachliche Bildung und Erziehung muss sich orientieren an den besonderen Zugangsweisen zur Sprachaneignung und zum Lernen, die Kinder je nach Lebensalter haben. Und es ist notwendig, dass bei zwei- oder mehrsprachig aufwachsenden Kindern auf ihre spezifischen Spracherfahrungen Rücksicht genommen wird.
Fördermaßnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund sind notwendig. Sie sind aber abzulehnen als "Sonder- und Randmaßnahmen". Statt dessen sollten sie integraler Bestandteil von Schule und Unterricht sein.
Weder in der PISA-Studie noch in den Reaktionen darauf wird auf die Mehrsprachigkeit von Migrantenkindern als Teil ihrer interkulturellen Handlungsfähigkeit eingegangen. Sprachkenntnisse werden ausschließlich als Deutsch-Kenntnisse betrachtet. Es fehlt die Erweiterung des Blicks auf die Ressourcen, die mit Mehrsprachigkeit für die multikulturelle deutsche Gesellschaft verbunden sind - man denke nur an die bildungspolitischen Bekenntnisse zur Förderung der Mehrsprachigkeit in Europa.
Die PISA-Befunde lassen erkennen, dass es in der Lehrer- und Erzieherausbildung, der Curriculumentwicklung und der Praxis des Unterrichts (insbesondere im Deutschunterricht) beträchtlichen Nachholbedarf gibt, das Lehren und Lernen in mehrsprachigen Lerngruppen so erfolgreich wie möglich für alle Beteiligten zu gestalten. Angesichts des Faktums, dass etwa ein Drittel der deutschen Schülerschaft einen Migrationshintergrund besitzt, ist sprachlich-kulturelle Pluralität kein Ausnahmefall, sondern die Regel in der deutschen Schule.
Essen, den 13. Mai 2002
Vorgelegt vom Institut für Migrationsforschung,
Interkulturelle Pädagogik und Zweitsprachendidaktik (IMAZ)
Universität Essen
Fachbereiche 1 bis 3
Universitätsstr. 11, 45117 Essen
Unterstützt wird diese Resolution von folgenden Personen und Instituten:
Herr Prof. Dr. Georg Auernheimer
Universität zu Köln
Erziehungswissenschaftliche Fakultät
Seminar für Pädagogik, Abt. Allgemeine Pädagogik
Albertus-Magnus-Platz
40923 Köln
Herr Prof. Dr. Klaus J. Bade
Institut für Migrationsforschung
und Interkulturelle Studien (IMIS)
der Universität Osnabrück
Neuer Graben 19/21
49069 Osnabrück
Herr Prof. Dr. Klaus F. Geiger
Universität Kassel
Fachbereich 5
Gesellschaftswissenschaften
Nora-Platiel-Str. 1
34127 Kassel
Frau Prof. Dr. Ingrid Gogolin
Herr Prof. Dr. Hans-Joachim Roth
Universität Hamburg
Fachbereich Erziehungswissenschaft
Institut für international und interkulturell
Vergleichende Erziehungswissenschaft
Von-Melle-Park 8
20146 Hamburg
Herr Prof. Dr. Alfred Holzbrecher
Pädagogische Hochschule Freiburg
Institut für Erziehungswissenschaft I
Kunzenweg 21
79119 Freiburg
Institut für Bildung und Kommunikation
in Migrationsprozessen (IBKM)
Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Ammerländer Herrstr. 114-118
26129 Oldenburg
Frau Prof. Dr. Marianne Krüger-Potratz
Arbeitsstelle Interkulturelle Pädagogik
Universität Münster
Corrensstr. 24
48149 Münster
Herr Prof. Dr. Klaus Liebe-Harkort
Universität Bremen
Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften
Studiengang Deutsch als Zweit- und Fremdsprache
Bibliothekstraße
28359 Bremen
Herr Prof. Dr. Dieter Oberndörfer
Arnold-Bergsträsser-Institut
Windaustr. 16
79110 Freiburg i. Br.
Herr Prof. Dr. Hans H. Reich
Universität Koblenz-Landau
Abteilung Landau
Studienbereich Deutsch als Fremdsprache
Marktstr. 46
76829 Landau/Pfalz
Redaktion: Monika Rögge, Telefon (02 01) 1 83 - 20 85
Universität Essen, Pressestelle, 45117 Essen
Telefon: (02 01) 1 83-20 88 - Telefax: (02 01) 1 83 - 30 08
e-mail: pressestelle@uni-essen.de - Internet: http://www.uni-essen.de/pressestelle
Besucheranschrift: Universitätsstraße 2, 45141 Essen, Gebäude T01, 6. Etage, Raum B13
Verantwortlich: Monika Rögge, Telefon: (02 01) 1 83 - 20 85
Merkmale dieser Pressemitteilung:
fachunabhängig
überregional
Wissenschaftspolitik
Deutsch
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