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29.05.1998 00:00

Eröffnung der Abteilung Völkerkunde im Museum Schloß Hohentübingen

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Grenzüberschreitung im Gefängnis

    Eröffnung der Abteilung Völkerkunde im Museum Schloß Hohentübingen

    Nach der Renovierung des Fünfeckturms des Tübinger Schlosses wird dort am 28. Mai eine Dauerausstellung aus Beständen des Instituts für Ethnologie eröffnet. Von den rund 4.000 Objekten der Institutssammlung wurden etwa 100 exemplarisch ausgewählt. Damit ist das Museum Schloß Hohentübingen endlich komplett, denn neben den frühen Kulturen des Menschen und den alten Zivilisationen von Mesopotamien über Ägypten bis Hellas und Rom sind nun auch Kunst und Handwerk fremder Völker reich präsentiert.

    Während die kulturhistorischen Ausstellungen im eigentlichen Schloßbau zu betrachten sind, ist die Völkerkunde vor dem Tor zum Hof der Anlage untergebracht, im ehemaligen "Criminalgefängnis". Ahnenbilder aus der Südsee und riesige Keramiken vom Amazonas, seltene Rindenbaststoffe - all diese Erinnerungen und Mitbringsel der Forscher, Träumer und Kolonialisten bilden den Grundstock der Ausstellung. Wenn Touristen oder auch Tübinger das äußere Tor hinter sich gelassen haben und dann dem Innern des Schlosses entgegenstreben, begegnen sie jetzt diesem völkerkundlichen Vorbau, ehe sie vom Schloßhof aus die althistorischen Hauptsammlungen des Museums betreten können.

    Die kleinen Zellen des ehemaligen Gefängnisses stellten große Anforderungen an die Gestaltung der Ausstellung mit ihren meist großformatigen Objekten. Wo früher die Gefangenen ihre Strafen absaßen, mahnen nun die Malanggane, ozeanische Ahnendarstellungen, die mit ihrem expressiven, fast gespenstischen Charakter europäische Künstler von Paul Gauguin bis Emil Nolde angeregt haben. Diese Einflüsse sind anhand von Reproduktionen moderner europäischer Kunst dokumentiert und kommentiert. Damit ist auch die Spezialität dieser Ausstellung im Gegensatz zu vielen anderen völkerkundlichen Präsentationen bezeichnet: Objekte, die von Europäern im Laufe von 200 Jahren in exotischen Landstrichen gesammelt wurden, stehen hier nicht einfach für sich und ihre Herkunftskultur, sondern sie werden auch in ihrer Faszination und ihrer Funktion für die Europäer erklärt.

    Der Bedeutungswandel traditioneller Tapa-Rindenbaststoffe aus dem Südseeraum hinterließ eine deutlich sichtbare Spur der Europäisierung und der Schaffung neuer Mischkulturen. Die Shipibo-Keramik der Amazonasindianerinnen strahlt mit einer für uns schwer verständlichen aber suggestiven und ausgefeilten Ornamentik aus den dunklen Räumen, und da es sich hierbei um reine Frauenkunst handelt, erfahren wir ganz nebenbei auch viel über die Rolle von Frauen in anderen Kulturen. In den Fotografien und Aquarellen der Südsee-Reisenden Elisabeth Krämer-Bannow (1874-1945) spiegeln sich die Sehnsüchte und Enttäuschungen, welche die Entdeckung und Eroberung der Kontinente durch die Europäer begleitet haben.

    Die völkerkundliche Sammlung des Instituts für Ethnologie ist nicht sehr umfangreich, aber von vergleichsweise hohem Alter. Erst kürzlich hat der Kustos der Sammlung Dr. Volker Harms mit einem geschnitzten Hauspaneel der Maori von Neuseeland Aufsehen erregt, das er nach längerer Nachforschung eindeutig den Erwerbungen des legendären Entdeckers Captain James Cook zuordnen kann. Das Gros der Objekte stammt aus den Sammlungen des Marinearztes und Reisenden Augustin Krämer (1865-1941), der die Tübinger Völkerkunde begründet hat. Überleben konnte diese Sammlung, trotz Kriegen und Auslagerungen, unter anderem durch den unermüdlichen jahrzehntelangen Einsatz der Ethnologin Elisabeth Gerdts-Rupp (1888-1972). Sie vertrat eine künstlerische, in der Auseinandersetzung mit ihrem Jugendfreund Hermann Hesse geschulte Betrachtung außereuropäischer Kunst und war damit ihrer Zeit weit voraus.

    Dr. Harms hat diese historische Tiefe der Sammlung zum Anlaß genommen, eine ganz besondere Ausstellung zu gestalten. Die Faszination des Fremden und der Schock der europäischen Modernisierung sind gleichermaßen dokumentiert. Gerade in diesem Gegensatz liegt die Stärke der Völkerkunde oder Kulturanthropologie: Als Wissenschaft von den fremden Kulturen hält sie in unserer durchrationalisierten Welt die Erinnerung an ein Universum des Selbstgemachten aufrecht. Es geht um das Wissen, daß es auch anders geht als bei uns - und trotzdem noch mit Stil und Geschick und so gar nicht "primitiv". Manche Besucher werden etwas von ihren eigenen handwerklichen Bemühungen in den unbekannten Meisterwerken der völkerkundlichen Abteilung wiederentdecken und dabei vielleicht erkennen, was für einer hohen Kenntnis und Lebenskunst es bedarf, als "Wilder" zu überleben. Diesen Denkanstoß kann man ab dem 28. Mai bei einem Marsch auf den Tübinger Schloßberg in doppelter und dreifacher Hinsicht erhalten, denn in der dunklen historischen Atmosphäre von Wehrturm und ehemaligem Gefängnis können wir über die Grundlagen der menschlicher Kultur nachdenken, aber auch über die Ursprünge unserer eigenen Kultur und beim Besuch der Hauptsammlungen im Schloßgebäude sind dann eine Fülle von Zeugnissen zu besehen aus diesem Prozeß der Zivilisation, aus den Fortschritten und Rückfällen der Menschheit.

    Die württembergische Gerichtsordnung sah vor, daß Gefangene nicht nur bestraft, sondern auch belehrt und umgeschult werden sollten. Ganz so streng soll es im ehemaligen Criminalgefängnis nun nicht mehr zugehen, wenn das Institut für Ethnologie dort seine museumspädagogische Arbeit aufnimmt. In unterhaltsamen Führungen werden Kinder und Erwachsene sich Geheimnisse von Kunst und Handwerk, Religion und Macht in der Dritten Welt aneignen können, aber auch handfestes Wissen über diejenigen Völker, die uns einerseits so hungrig und miserabel vorkommen, die uns aber andererseits immer wieder überraschen durch ihre Vitalität und ihren Einfallsreichtum in einer unübersichtlich gewordenen Welt.

    Sonderausstellungen ergänzen die Schau von Kunst und Handwerk aus der Südsee und vom Amazonas. Im Anschluß an die Ausstellung von Fotos und Aquarellen der Südseereisenden Krämer-Bannow soll noch dieses Jahr im Dezember eine originale neapolitanische Weihnachtskrippe in ihrer orientalistischen Pracht zu sehen sein.

    Die Abteilung Völkerkunde des Museum Schloß Hohentübingen ist mittwochs bis sonntags von 10-18 Uhr geöffnet, die Eintrittskarten gelten auch als Berechtigung für den Besuch des Haupthauses im Schloß. Prof. Dr. Thomas Hauschild, Ethnologe und Sprecher des Direktoriums des Schloßmuseums, veranstaltet am Sonntag, dem 7. Juni 1998, 15.00 Uhr eine Führung durch die Abteilung. Weitere Termine für Führungen von Schulklassen, Vereinen oder anderen Gruppen vermittelt Frau Schumacher im Sekretariat des Museums Schloß Hohentübingen, Telefon 07071-2977384, Fax 07071-295659.

    Nähere Informationen:
    Prof. Dr. Thomas Hauschild, Institut für Ethnologie, Tel.: (07071) 29-75454,
    Fax: 29-4995, E-Mail: thomas.hauschild@uni-tuebingen.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

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