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18.07.2002 10:01

Risiken der DRGs für Universitätsklinika

S. Nicole Bongard Kommunikation und Medien
Klinikum der Universität München

    Die Einführung eines vollpauschalierten Entgeltsystems (Diagnosis Related Groups) stellt die markanteste Gesundheitsreform seit 30 Jahren dar. Das neue Vergütungssystem soll leistungsgerechter, transparenter und vor allem kostensparender sein. Man erwartet einen Verweildauerrückgang bis zu 40 %. Das mag generell richtig sein, doch für die Krankenhäuser der Maximalversorgung (also auch alle 35 Universitätsklinika) beinhaltet die Reform auch Gefahrenpotenziale. Für das Klinikum der Universität München ist dieses Gefahrenpotenzial besonders hoch, da das riesige Haus nahezu alle Fachrichtungen aufweist und somit von allen einzelnen Systemschwächen berührt wird.

    Diese Risiken - heute auf einer Pressekonferenz in München erläutert - ergeben sich dadurch, dass für Universitätsklinika kein besonderer Zuschlag vorgesehen ist. Andererseits haben die Universitätsklinika wie auch andere Häuser der Maximalen Versorgungsstufe bereits durch die außerordentliche Ausstattung in der Medizintechnik und ihrer Ausrichtung auf die aufwändigsten Behandlungsmöglichkeit auch des kompliziertesten Krankheitsbildes deutlich höhere Vorhaltekosten. Es sieht so aus, als profitierten von der Reform vor allem die kleineren Häuser, während die großen Kliniken die Zeche zahlen.

    In folgenden Beispielen sind für einige Krankheiten die heute gültigen Erträge den künftigen Erträgen gemäß DRG-Systematik gegenübergestellt:

    Bypassoperation mit Begleiterkrankungen:
    heute 15.272 Euro / mit DRG 12.440 Euro (-23%)
    Behandlung einer Leberzirrhose mit Begleiterkrankungen, zum Beispiel nach Hepatitis:
    heute 10.287 Euro / mit DRG 5.140 Euro (-50%)
    Knochenmarktransplantation beim Kind mit Leukämie heute 134.718 Euro / mit DRG 3.660 (-470%)

    Es liegt auf der Hand, dass Universitätsklinika mit diesen Preisen künftig benachteiligt werden. Höchstleistungsmedizin darf und kann eben nicht mit der Regel- und Grundversorgung in einen Topf geworfen werden.

    KONSEQUENZEN FÜR DIE PATIENTEN

    Auf der derzeitigen Gesetzesgrundlage sind folgende nachteilige Auswirkungen auf die Universitätsklinika, aber insbesondere auf die Patientenversorgung nicht auszuschließen:
    · Die in Australien bestehenden 661 DRGs bilden die deutsche Krankenhauslandschaft nur sehr unzureichend ab. Im Bereich der Onkologie beispielsweise gibt es nur eine DRG jeweils für die Chemotherapie, die Strahlentherapie und die Knochenmarktransplantation (allein für letztere gibt es bislang sechs Einstufungen). Damit ist offensichtlich, das extrem unterschiedliche Verweildauern und komplexe Sachkostenvariationen nicht vernünftig bewertet sein können
    · Zunahme erheblicher Wartezeiten, insbesondere bei aufwändigen sogenannten Elektiveingriffen, also Wahleingriffen, die planbar und zeitlich variabel sind sowie bei "High-Tech-Leistungen", die mit DRGs unterfinanziert sind
    · "Rosinenpickerei" durch Verlegung und Einweisung besonders aufwändiger, multimorbider Patienten in die Universitätsklinik als letztem Glied der Versorgungskette
    · Aufgrund der möglichen Unterfinanzierung bestimmter DRGs, müssen sich insbesondere Krankenhäuser niedriger Versorgungsstufen spezialisieren, um Kosten einzusparen, mit der Konsequenz, dass bestimmte Erkrankungen nicht mehr wohnortnah behandelt werden können und damit die Wege für Patienten und Angehörige weiter werden
    · In den USA und Australien wurde nach Einführung der DRGs eine drastische Reduktion der Verweildauer beobachtet, die der Gesetzgeber auch für Deutschland erwartet. Bei frühzeitiger Entlassung des Patienten ist zur Zeit das Angebot an Nachsorgeeinrichtungen unzureichend. Dies gilt insbesondere für geriatrische Einrichtungen sowie für Einrichtungen zur Rehabilitation und Anschlussheilbehandlung. So haben diese Einrichtungen, die zum Beispiel Patienten nach einer Hüftoperation orthopädisch betreuen, häufig keine Fachärzte, die die anderen Erkrankungen, wie zum Beispiel Herzerkrankungen oder Diabetes, insbesondere der älteren Patienten optimal behandeln können
    · Auch die ambulante Nachsorge ist nicht in ausreichendem Maß vorhanden. Dies stellt für eine Stadt wie München mit einem extrem hohen Anteil von 1-Personen-Haushalten ein Problem von höchster Brisanz dar. Diese Patientenklientel kann auch bei vorhandener ambulanter ärztlicher Betreuung vom Klinikum nicht nach Hause entlassen werden, weil keine häusliche Pflege (durch ambulante Dienste oder familiäre Strukturen) vorhanden ist
    · Kann das Klinikum einen Patienten aufgrund fehlender Nachsorgeeinrichtungen nicht nach der vorgesehenen Verweildauer entlassen, zahlt das Klinikum den Zeitraum bis zur Verlegung in eine nachgelagerte Einrichtung aus eigener Tasche. Zu Lasten des Patienten setzt eine verspätete Rehabilitation ein, die eigentlich zeitnah erfolgen sollte
    · Auch für die Ärzteschaft ist die Einführung des neuen Entgeltsystems mit zusätzlichen Belastungen im Rahmen der Dokumentation der Diagnosen, Nebendiagnosen und Prozeduren verbunden. Die oft diskutierte Arbeitsüberlastung der Ärzte im Krankenhaus und die daraus resultierende fehlende Zeit für den Patienten wird weiter verschärft, da für die DRG-Einführung keine zusätzlichen Mittel für zusätzliches Personal zur Verfügung gestellt werden.

    FAZIT

    Es zeigt sich zunehmend, dass die Selbstverwaltung (Krankenkassen und Deutsche Krankenhausgesellschaft) mit den Einführungsarbeiten bis Herbst diesen Jahres nicht rechtzeitig fertig wird. Es besteht die Gefahr, dass das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) in einer sogenannten Ersatzvornahme unausgegorene Regelungen treffen wird und als Interimslösung die australischen DRGs im Verhältnis 1 : 1 übernommen werden. Sollten - wie offenbar vorgesehen - subsidiär die 661 australischen Einzel-DRGs zunächst zum Einsatz kommen, da die deutschen DRGs noch nicht kalkuliert sind, ergeben sich für die Haushaltsführung gravierende Probleme:
    - nicht sachgerechte Abbildung und Finanzierung der Intensivmedizin, Onkologie und für viele chronische Erkrankungen
    - keine kalkulierten Zusatzentgelte für teure Medikamente, Implantate, Diagnostik und Therapie.

    "Wenn die Leistungen nicht mehr adäquat finanziert werden, besteht die Gefahr einer Steigerung der rentablen Leistungen mit gleichzeitiger Absenkung der zu teuren Leistungen. Zwangsläufig wäre der Patient dann der Verlierer dieser Gesundheitsreform", so Günter Auburger, Verwaltungsdirektor des Klinikums der Universität München.

    FORDERUNGEN DERS KLINIKUMSVORSTANDES

    1. Verschiebung der Startphase von 2004 auf 2005 (optional von 2003 auf 2004)
    Es fehlt eine generelle Planungssicherheit, die es ermöglichen würde, eine langfristige Strategie zu erarbeiten. Deshalb muss der Zeitplan für die Einführung der DRGs in Verbindung mit einer sorgfältigen Anpassung des australischen Systems an deutsche Verhältnisse verlängert werden. Die jetzt vorgesehene Einführung bis 2007 (budgetneutrale Phase in 2003/2004, Anpassung der individuellen Krankenhausbudgets schrittweise an DRG-Budgets in 2005/2006, komplette DRG-Abrechnung ab 2007) ist aufgrund der Komplexität nicht realistisch, zumal heute, weniger als ein halbes Jahr vor in Kraft treten der neuen Vergütungsregelungen keine Rechtssicherheit in der Ausgestaltung der neuen Vergütungsregelungen besteht.

    2. Minimalrevision der australischen DRGs
    Derzeit sieht das australische System 661 DRGs vor. Zieht man davon die psychiatrischen DRGs ab, so verbleiben 648 Vergütungspauschalen, die das deutsche Behandlungsspektrum abbilden sollen. Dieses Potenzial schöpft das Klinikum aus und trotzdem sind nach unserer zwischenzeitlich gewonnenen Berechnung viele Krankheitsbilder nicht oder nicht adäquat abgebildet. Eine zumindest minimale Revision, die Zug um Zug ausgeweitet wird, ist zwingend vor der Einführung geboten. Dies gilt sowohl für die bestehenden 648 DRGs, die inhaltlich zum Teil überarbeitet werden müssen wie auch für die Anzahl der zukünftigen DRGs, die deutlich höher liegen muss.

    3. Zusatzengelte
    Die Universitätsklinika brauchen leistungsgerechte Entgelte (DRGs, Zusatzentgelte, Entgelte für Innovationen) in ausreichender, an dem Behandlungsspektrum deutscher Hochleistungsmedizin orientierter Anzahl, um ihre Existenz und ihr umfangreiches hochklassiges Leistungsangebot im Sinne und zum Wohl der Patienten aufrecht zu erhalten. Dies lässt sich vernünftigerweise über angemessene Zuschläge realisieren. Die Weichenstellung dazu muss jetzt geschehen, da der Prozess der Preisfindung zum jetzigen Zeitpunkt noch zu beeinflussen ist. Die Universitätsklinika brauchen rechtzeitig Planungssicherheit.
    Für die Hüftprothese wird es ein pauschales Entgelt geben, unabhängig vom Preis des Implantates. Da in der Universitätsklinik üblicherweise die schwierigen Fälle betreut werden, kommen häufig besonders teure Implantate zum Einsatz, die aber durch die Pauschalentgelte nicht abgedeckt sind: die Universitätsklinika brauchen also Zusatzentgelte für derartige Fälle. Die gilt für Prothesen in der Knochen- und Gelenkchirurgie genauso wie in der Herz- und Gefäßchirurgie. Die Universitätsklinika dürfen nicht dem ethischen Konflikt ausgesetzt werden, aus wirtschaftlichen Gründen eigentlich kostengünstigere Implantate einsetzen zu müssen, wohlwissend, dass dies nicht die beste medizinische Versorgung ist.
    Es mangelt zudem noch an praktikablen Lösungen für chronische Krankheiten sowie für die Geriatrie. Auch die Nachsorgestrukturen müssen generell verbessert werden.

    Notwendig sind Entgelte für unterschiedlich teure Medikamente, vor allem bei Chemotherapien, Immuntherapien und Schmerztherapien, für Blutprodukte, Immunglobuline und auch für spezielle teure Therapien wie zum Beispiel Leberersatzverfahren oder Plasmapherese. "Britische Verhältnisse, wo beispielsweise Hüftgelenksprothesen an Patienten ab einem gewissen Alter aus Kostengründen teilweise aus wirtschaftlichen Gründen nicht mehr eingesetzt werden oder wo privilegierte Patienten ihre Behandlung auf dem Kontinent erkaufen und eine Zweiklassenmedizin entsteht, dürfen nicht Ziel des deutschen Gesundheitswesens sein," so Professor Gerd Plewig, Ärztlicher Direktor des Klinikums der Universität München.

    4. Regelung für Mehrleistungen in der budgetneutralen Phase
    Das Klinikum braucht eine rechtliche Grundlage zur Verhandlung von Mehrleistungen oder Leistungsstrukturveränderungen auch unter DRG-Bedingungen während der 2-jährigen Neutralitätsphase. Bislang ist keine Finanzierung von Mehrleistungen vorgesehen: steigen beispielsweise die Patientenzahlen, werden die Kosten von den Krankenkassen nicht berücksichtigt und eine Finanzierung ist nicht mehr gewährleistet.


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Ernährung / Gesundheit / Pflege, Gesellschaft, Medizin, Politik, Recht
    überregional
    Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftspolitik
    Deutsch


     

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