Vulnerabilität und Resilienz sind keine neuen Begriffe in jenen Wissenschaften, die sich mit Gefahren für die Funktionsweise von komplexen Systemen beschäftigen. Aus der Humanökologie und Psychologie kommend, wurden die dahinter stehenden Konzepte später auch von den Sozialwissenschaften zu Eigen gemacht. In den vergangenen drei Jahren hat das IRS an der theoretischen Fundierung der Begriffe gearbeitet und sie für den Einsatz in sozialen und ökonomischen Kontexten weiterentwickelt. Das Ergebnis haben die Forscher auf ihrer gemeinsam mit der HafenCity-Universität (HCU) Hamburg ausgerichteten Konferenz „Constructing Resilience“ in Berlin mit internationalen Experten diskutiert.
Die Übertragung der Konzepte von Vulnerabilität und Resilienz in die Sozialwissenschaften bedeutet in der Mehrzahl der Fälle, dass das ökologische Begriffsverständnis, nach dem ein zentral gestelltes Ele-ment in Relation zu seiner Umwelt evaluiert wird, auf soziale Risiken übertragen wurde. Unter Vulnerabilität werden dabei Bedingungen und Prozesse verstanden, welche die Exposition und Empfindlichkeit des Elements, sei es eine Einzelperson auf dem Arbeitsmarkt oder eine peripherisierte Mittelstadt, gegenüber Gefahren bestimmen. Ziel einer Vulnerabilitätsanalyse in diesem Sinne ist, den Grad der Verletzbarkeit der Person oder der Stadt zu bestimmen, wofür sowohl externe als auch interne Faktoren einen Einfluss besitzen. Soziale Vulnerabilität berücksichtigt dabei, dass nicht alle Akteure in einem bestimmten Kontext vergleichbare Verletzlichkeit zeigen oder vergleichbare Resilienzstrategien entwickeln. Damit ist es möglich, eine Verbindung zwischen materiellen und immateriellen sowie natürlichen und sozialen Einflussfaktoren herzustellen.
„Trotz dieser Versuche der Integration der sozialen Differenzierung in die Konzepte von Vulnerabilität und Resilienz durch die Sozialwissenschaften blieben bisher theoretische Lücken bestehen“, sagte PD Dr. Gabriela Christmann (IRS) im Einführungsvortrag der Konferenz „Constructing Resilience“ am 17. und 18. Januar 2013. Diese Lücken waren für das IRS Anlass, 2010 ein dreijähriges abteilungsübergreifendes Forschungsprojekt zu starten und einen neuen Definitionsansatz für Vulnerabilität und Resilienz aus sozio-räumlicher Perspektive zu entwickeln. "Wir haben festgestellt, dass der Aspekt der sozialen Konstruktion von Risiken nicht adäquat berücksichtig wurde, dass die Verbindung zwischen materiellen und immateriellen Faktoren ungenügend theoretisiert wurde und dass Implikationen für die Governance kaum eine Rolle im wissenschaftlichen Diskurs um Vulnerabilität und Resilienz gespielt haben." Die soziale Konstruktion von Vulnerabilität fügt der Idee, dass die Empfindlichkeit gegenüber äußeren Einflüssen sozial differiert, den Aspekt hinzu, dass Menschen, Stadtgesellschaften oder Regionen zudem voneinander abweichende Wahrnehmungen entwickeln: Sie sehen sich selbst als verletzlich oder widerstandsfähig an und konstruieren auf diese Weise ihre Vulnerabilität. Obwohl diese Wahrnehmungsunterschiede vielerorts in der Literatur auftauchen, wurden bisher kaum theoretische Konsequenzen in der Resilienzforschung gezogen. Dadurch blieb die Dichotomie zwischen den scheinbar gegensätzlichen natürlichen und sozialen Determinanten bestehen. Einerseits erschienen die materiellen Bedrohungen als gleichsam objektiv gegeben, andererseits wurden Risikowahrnehmungen als rein projizierte, oftmals rein subjektiv erlebte Gefahren angesehen. Dass diese Trennung in zwei zwar aufeinander bezogene, aber dennoch faktisch getrennte Sphären die Konzepte von Vulnerabilität und Resilienz lange prägte, lässt sich historisch erklären. Dies wird dem State of the Art der sozialwissenschaftlichen Risikoforschung aber nicht mehr gerecht. „Implizit steckt dahinter eine essentialistische Sichtweise auf Gefahren und Risiken“, erläutert Christmann. „Diese werden als objektiv gegeben angesehen, über soziale Verarbeitung findet lediglich eine Modifikation statt. Die Überlegungen zur sozialen Konstruktion legen jedoch nahe, dass es eine faktische, objektive Gefahr nicht geben kann. Vielmehr müssen alle Determinanten einer Gefährdung gleichberechtigt in die Analyse einbezogen werden.“
Auf der Basis dieser Überlegungen hat die Projektgruppe am IRS eine Neufassung der Begriffe Vulnerabilität und Resilienz erarbeitet, die sich vor allem auf die Relationen zwischen einer zentral gestellten bewahrenswerten Einheit und allen diese beeinflussenden Determinanten fokussiert. Wichtig war es, ein relationales Modell zu finden, in dem auch Entitäten mit sehr unterschiedlicher Verfasstheit (z.B. Regelungen und technische Vorkehrungen) auf einer Ebene mit demselben Status berücksichtigt sind und völlig frei in Verbindung gebracht werden können. Die von Bruno Latour formulierte Actor-Network-Theorie (ANT) bietet diese Möglichkeiten, da sie die Beschränkung des Sozialen auf das Zwischenmenschliche aufhebt und stattdessen eine „sociology of associations“ proklamiert. Prof. David Stark (Columbia University) erklärte in seinem Abschlussstatement auf der Konferenz: “Sociology is not about human beings, it is about being human“. Zum Menschsein gehören nicht nur die Gesellschaft zu anderen Menschen, sondern auch die vielen Objekte, Artefakte, Werkzeuge, Maschinen und Gegenstände, die im Zuge der Kulturgeschichte entwickelt worden sind. Bezogen auf die Verletzlichkeit gegenüber Gefahren impliziert die ANT, dass ein relationales, sozio-technisches Netz aus jenen natürlichen, menschlichen, materiellen und immateriellen Entitäten, die mit der konkreten Gefahrensituation zusammenhängen, geknüpft und das zentrale Element darin positioniert wird. „Dieses Netz ist nicht naturgegeben, vielmehr sind alle diese Verbindungen in hohem Maße artifiziell und daher auf fundamentale Art sozial konstruiert“, fasst Prof. Dr. Oliver Ibert (IRS) den Nutzen für den Vulnerabilitätsdiskurs zusammen. „Das Netz ist dabei dynamisch und aktionsorientiert. So bedeutet Resilienz die Fähigkeit zur Modifikation des Netzes durch Hinzufügen, Entfernen oder Verändern von Elementen.“ Resilienz, so das Fazit, werde ständig konstruiert.
Der Begriff der Konstruktion bildete aus diesem Grund den roten Faden der Konferenz. In drei Sessions diskutierten IRS- und HCU-Wissenschaftler mit eingeladenen internationalen Experten die Konstruktion durch Wahrnehmung, die systematische Konstruktion von Anpassungsfähigkeit als Resilienzstrategie sowie die steuerungspolitischen Implikationen. Die vom IRS vorgeschlagene theoretische Ausweitung der Konzepte stieß auf große Resonanz und ermöglichte einen Dialog über Disziplinen- und Kontextgrenzen hinweg. Zugleich wurde in mehreren Redebeiträgen deutlich, dass der Begriff der Resilienz nicht beliebig gedehnt werden kann. Die Grenzen des netzwerkbasierten Verständnisses von Vulnerabilität und Resilienz liegen in seiner konservativen Grundausrichtung. Selbst wenn die Anpassungsfähigkeit von Systemen in den Vordergund rückt und damit auch substanzielle Veränderungen möglich sind, läge ein Umstoßen von Altbewährtem und ein kompletter Neuanfang wohl außerhalb des Resilienzbegriffes, so Ibert. Stark stellte daher in seinem Abschlussstatement den Begriff der „valued entity“ in den Mittelpunkt. Es gebe immer etwas Schützenswertes, von dessen Kern man in keinem Fall abrücken könne. Für die politische Implementation von Resilienzstrategien empfahl er daher, die Vielstimmigkeit in Bezug auf das Bewah-renswerte zu erhalten und auch feine Differenzierungen von Vulnerabilitätsdefinitionen ernst zu nehmen. Diese Unterschiede seien kein Problem für die politische Steuerung, sondern schlicht die Realität. Sie zu berücksichtigen, erhöhe die Resilienz des Gesamtsystems.
Neben theoretischer Reflektion bot die Konferenz auch Erfahrungen aus praktischen Handlungskontexten. So berichtete Dr. Guru Banavar (Vice President IBM Global Public Sector, New York) vom Aufbau eines städtischen Operation Centers in Rio de Janeiro, welches die Resilienz der Stadt und seiner Bewohner gegenüber allen Arten von unvorhergesehenen Ereignissen, vom Stau durch einen Verkehrsunfall bis hin zu Überschwemmungen, erhöhen soll. Das Center bündelt Informationen und Kompetenzen und stärkt dadurch die Reaktionsfähigkeit. Die Nachfrage nach derartigen Vorkehrungen mag sich auch daraus erklären, dass das Thema Resilienz nach Ansicht vieler Referenten zunehmend auf die lokale Ebene delegiert wird, eine Tendenz, die David Stark in Anlehnung an die mittelalterliche Machtkonzentration auf Städte als „mediavalization“ bezeichnete. Prof. Christian Berndt (Universität Zürich) und Prof. Jon Coaffee (University of Birmingham) thematisierten sogar eine Individualisierung von Resilienz. Resiliente Gesellschaften würden zunehmend als Gesellschaften bestehend aus resilienten Individuen gesehen. Von dieser Perspektive aus betrachtet, das wurde in der Keynote von Prof. Ash Amin (Cambridge University) deutlich, erscheinen die meisten Bedrohungen als exogene Schocks und Resilienz beschränkt sich zunehmend auf Krisenmanagement. Viele Referenten betonten bestimmte Systemeigenschaften, wie Strukturredundanz und gut ausgebaute Infrastrukturen, als wichtige Elemente für Resilienzstrategien – zugleich sind aber vor allem öffentliche Akteure in Zukunft immer weniger in der Lage, diese Ressourcen für den Notfall vorzuhalten. Daher sei trotz einer zunehmenden De-Zentralisierung der Verantwortung weiterhin die Wirkung von Hierarchien und übergeordneten territorialen Einheiten bedeutsam, die dafür zuständig sind, die knappen Ressourcen auf die wirklich bedürftigen Räume zu konzentrieren, stellte Prof. Dr. Gernot Grabher (HCU) in seinem Vortrag dar. Er bezeichnete dieses Zusammenspiel von Hierarchie und dezentraler Selbstverantwortung „Heterarchie“.
Die Konferenz hat dazu beigetragen, dass der Konstruktionscharakter von Vulnerabilität und Resilienz in der wissenschaftlichen Debatte um Gefahren, Risiken und den Umgang mit diesen stärker verankert wurde. „Die sozialwissenschaftliche Fundierung der Konzepte hat sich bewährt für die Integration von ökologischen, technologischen, sozialen, politischen und sehr praktischen Perspektiven auf Vulnerabilität und Resilienz“, schließt die IRS-Direktorin und Leiterin des dreijährigen Brückenprojekts am Institut, Heiderose Kilper. „Das Feedback aus der wissenschaftlichen Community war ermutigend und lässt uns stolz auf unsere Forschung und die Konferenz zurückblicken.“
Kontakt
Prof. Dr. Heiderose Kilper, Tel. 03362/793-115, kilper@irs-net.de
Heiderose Kilper ist Direktorin des IRS. Von 2010 bis 2012 leitete sie das Brückenprojekt “Vulnerabilität und Resilienz in sozio-räumlicher Perspektive“.
PD Dr. Gabriela Christmann, Tel. 03362/793-270, christmann@irs-net.de
Gabriela Christmann ist Leiterin der Forschungsabteilung „Kommunikations- und Wissensdynamiken im Raum“ des IRS und arbeitete von 2010 bis 2012 am Brückenprojekt „Vulnerabilität und Resilienz in sozio-räumlicher Perspektive“ mit.
Prof. Dr. Oliver Ibert, Tel. 03362/793-152, ibert@irs-net.de
Oliver Ibert ist Leiter der Forschungsabteilung „Dynamiken von Wirtschaftsräumen“ des IRS und arbeitete von 2010 bis 2012 am Brückenprojekt „Vulnerabilität und Resilienz in sozio-räumlicher Perspektive“ mit.
Jan Zwilling, Tel. 03362/793-159, zwilling@original-score.de
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am IRS
http://www.irs-net.de/forschung/abteilungsuebergreifend/index.php Informationen zum Brückenprojekt "Vulnerabilität und Resilienz in sozio-räumlicher Perspektive"
http://www.resilience-berlin.de/ Website der Konferenz "Constructing Resilience" inklusive Rednerliste, Programm und Fotogalerie
Referenten der Tagung "Constructing Resilience" am 17. und 18. Januar 2013 in Berlin
Foto: IRS/Jan Zwilling
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Geowissenschaften, Gesellschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Meer / Klima, Politik
überregional
Forschungsprojekte, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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