Vergewaltigung und sexueller Missbrauch ist das Strafedlikt mit der höchsten Dunkelziffer. Aktuelle Umfragen belegen jedoch, dass mindestens jede fünfte Frau betroffen ist. Bei der Mehrzahl der Opfer prägt die Traumatisierung das weitere Leben, wie Frauenärztinnen auf-grund neuer Untersuchungen auf dem Gynäkologenkongress in Düsseldorf berichten.
Im vergangenen Jahr erstatteten in Deutschland 7891 Opfer Anzeige wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung. Dass dies nur die Spitze des Eisberges ist, wissen alle Expertinnen und Experten. "Vergewaltigung ist das Delikt mit der höchsten Dunkelziffer aller Gewaltdelikte in der Gesellschaft" weiß PD Dr. Ursula Peschers von der I. Frauenklinik der Universität München. Dafür sind auch so genannte Vergewaltigungsmythen mit verantwortlich. Dabei handelt es sich um ein System von Überzeugungen, die Vergewaltigung verharmlosen oder rechtfertigen, Vergewaltiger entschuldigen und entlasten und Opfern Mitverantwortung zuschreiben.
Solche Vergewaltigungsmythen sind in der Gesellschaft weit verbreitet - auch bei Frauen, selbst wenn sie bei diesen geringer ausgeprägt sind. Das belegt eine Umfrage von Ursula Pe-schers bei verschiedenen Berufsgruppen. Dazu gehörten etwa Studentinnen und Studenten der Medizin, des Bauingenieurwesens und der Sozialpädagogik. Ebenso befragte Peschers Frauenärztinnen und Frauenärzte, Hebammen, Polizistinnen und Polizisten sowie Bäckerinnen und Bäcker, insgesamt 806 Personen.
Die größte Mythengläubigkeit auf einer Skala von eins (keine) bis sieben (sehr starke) stellte Peschers mit einer mittleren Mythengläubigkeit von 3,0 bei Bauingenieurstudierenden fest, die geringste (2,2) bei Studierenden der Sozialpädagogik.
Gefragt hatte die Ärztin beispielsweise nach der Zustimmung zu der Behauptung: "Die mei-sten Frauen, die behaupten, sie seien von einem Bekannten vergewaltigt worden, haben ver-mutlich zuerst eingewilligt und es sich dann anders überlegt." Eine andere These war: "Frauen, die Männer "anmachen", legen es darauf an, vergewaltigt zu werden." Frauenärzte brachten es auf Durchschnittswerte von 2,6 auf der Skala, ihre Kolleginnen auf 2,1 - die nach den Sozial-pädagogikstudierenden mythenkritischste Einstellung.
"Es gibt kein Strafdelikt, für das die Gesellschaft in so großem Maße dem Opfer Mitverantwor-tung zuschreibt", lautet die Schlussfolgerung der Gynäkologin, die auch von ihren Kolleginnen und Kollegen fordert, ihre Haltung zu hinterfragen.
Wie nötig dies ist, belegen aktuelle Umfragen, die das tatsächlicher Ausmaß der Gewalt gegen Frauen sehr viel besser widerspiegeln als die Kriminalstatistik. Bei einer aktuellen Umfrage bei Schwangeren an der Münchener Universitätsfrauenklinik im Zeitraum April bis Juli diesen Jah-res gaben beispielsweise 18 Prozent der 150 befragten Frauen an, sexuell und/oder körperlich misshandelt worden zu sein. In den meisten Fällen (82%) kam der Täter aus dem direkten Um-feld des Opfers. Diese Ergebnisse decken sich mit einer anonymen Umfrage bei mehr als tau-send Frauen an der Klinik aus dem Jahr 2000: Die Frage, "Wurden Sie jemals zu sexuellen Akti-vitäten gezwungen, die sie nicht durchführen wollten?" beantwortete damals jede fünfte Frau mit "ja". Diese Zahlen passen zu anderen Untersuchungen: In Europa und den USA schwanken die Schätzzahlen über sexuellen Missbrauch zwischen 12 und 45 Prozent der Frauen.
Schwedische Umfrage belegt: 46 Prozent der Frauen sind Gewaltopfer
In Schweden haben 46 Prozent der Frauen sexuelle und körperliche Gewalt nach ihrem 15. Le-bensjahr erlitten, elf Prozent der verheirateten Frauen werden von ihren Partnern misshandelt. Dies belegt eine Umfrage bei 10.000 Frauen in Schweden zwischen 18 und 64 Jahren, die Prof. Gun Heimer, Leiterin des Nationalen Zentrums für misshandelte und vergewaltigte Frauen an der Universitätsklinik von Uppsala auf dem Düsseldorfer Gynäkologen-Kongress präsentierte. Die Umfrage belegt auch, dass 75 Prozent der Frauen, die Selbstmordgedanken haben, und 65 Prozent der Frauen, die bereits einen Selbstmordversuch unternommen hatten, Opfer körperli-cher oder sexueller Gewalt waren.
Dass die Täter sich auch von einer Schwangerschaft nicht abhalten lassen, belegt eine Umfra-ge im Distrikt Uppsala: 1,3 Prozent der Schwangeren gaben an, von ihren Partnern misshandelt zu werden. Wird das Jahr vor der Schwangerschaft hinzu gerechnet, steigt die Zahl auf 2,8 Pro-zent. Das heißt: "Misshandlung ist in der Schwangerschaft genau so häufig wie Bluthochdruck oder Diabetes", , erklärt Heimer. Darum werde Misshandlung in Schweden in der Schwanger-schaft inzwischen routinemäßig angeklärt. "Gynäkologinnen und Gynäkologen sind besonders gefordert, aktiv zu werden", erklärt Heimer.
Frauenärztinnen und Frauenärzte sind gefordert
So sieht es auch ihr deutscher Kollege Professor Günther Kindermann, Direktor der I. Frauen-klinik der Ludwig Maximilians-Universität München: "Frauenärztinnen und Frauenärzte müs-sen sich sexuell missbrauchter Mädchen und Frauen mehr als bislang geschehen annehmen", fordert der Gynäkologe. Denn sexueller Missbrauch, Vergewaltigung oder langjährige sexuelle und körperliche Gewalt in der Kindheit ist eine Traumatisierung mit gesundheitlichen Lang-zeitfolgen.
Deutlich wird dies auch in den Praxen und Kliniken der Gynäkologen: Frauen mit Gewalterfah-rung leiden unter anderen Symptomen und reagieren beispielsweise auf Untersuchungen an-ders als Frauen, die keine Gewalterfahrung haben. Dies belegen Studien der Münchener Gynä-kologinnen und ihrer Kollegin Dr. Brigitte Leeners von der Frauenklinik der RWTH Aachen. Die Gynäkologinnen verglichen in Aachen das Verhalten von Frauen, die aufgrund von Gewalt und Missbrauch in therapeutischer Behandlung waren mit Kontrollprobandinnen. In München flossen die Ergebnisse von Umfragen bei 207 Patientinnen der normalen gynäkologischen Sprechstunde an der Poliklinik ein.
Die Gewalterfahrung prägt die Lebenssituation
Bei den Frauen in Therapie war mehr als die Hälfte mindestens zwei Jahre lang missbraucht worden. Die Münchener Patientinnen berichteten in 43 Prozent der Fälle von einem einmali-gen Missbrauchsereignis. In beiden Gruppen stammten 80 Prozent der Täter aus dem Umfeld des Opfers. Für 60 - 70 Prozent der Frauen prägte diese Traumatisierung die aktuelle Lebenssi-tuation entscheidend mit.
Mehr als ein Drittel der Frauen mit Gewalterfahrung (37 Prozent) scheut die Konsultation des Frauenarztes. In der Kontrollgruppe haben damit nur fünf Prozent der Frauen Probleme. Vor allem haben misshandelte Frauen häufiger Probleme bei körperlichen Untersuchungen durch die Scheide und bei Gesprächen über intime Dinge. Die Ärztinnen beobachteten auch, dass die betroffenen Frauen vor und während der Untersuchung einen stark angespannten Beckenbo-den haben, ebenso können vaginale Verletzungen diagnostiziert werden. Auffällig war auch der lange zeitliche Abstand zwischen den Arztkontakten, die Häufigkeit sexueller Schwierig-keiten sowie unklare Unterbauchbeschwerden.
Gewalterfahrung beeinflusst auch den Verlauf einer späteren Schwangerschaft. wie die Um-frage an der Schwangerenambulanz der I. Frauenklinik der Universität München belegt. Frau-en mit Gewalterfahrung erlebten beispielsweise Kindsbewegungen und Tritte als stark schmerzhaft und empfanden das Kind seltener als Bereicherung. Auch etwas häufiger in dieser Gruppe war die Zahl ungeplanter Schwangerschaften. Die Frauen litten häufiger unter unkon-trollierten Gefühlsausbrüchen, fühlten sich verletzlich und angespannt, klagten über Nervosi-tät wenn sie alleine waren, fühlten sich überreizt und neigten zu Panikreaktionen.
Rückfragen:
Prof. Dr. med. Günther Kindermann
und PD Dr. med. Ursula Peschers
I. Frauenklinik der LMU, Klinikum Innenstadt
Maistraße 11
80337 München
Tel.: 089-5160-4132, Fax: 089-5160-4166,
Ursula.Peschers@fk-i.med.uni-muenchen.de
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Pressestelle 54. Kongress der DGGG
Barbara Ritzert
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Ernährung / Gesundheit / Pflege, Medizin
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