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14.10.2002 12:37

Geschwisterneid trotz gerechter Eltern

Dr. Antonia Rötger Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

    Fast alle Kinder fühlen sich im Vergleich zu ihren Geschwistern benachteiligt. Die meisten Eltern behaupten dagegen, dass ihnen ihre Kinder gleich lieb und teuer sind. Psychologen um Dr. Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin zeigen nun, dass beide Parteien Recht haben könnten. Paradoxerweise führt sogar gerade die gerechte Aufteilung von Zeit und Geld auf die Kinder zu einem Nachteil für die mittleren Geschwister. Ihr theoretisches Modell, das auf einer einfachen Berechnung basiert, deckt sich mit Daten aus zahlreichen empirischen Studien aus aller Welt:

    Geschwisterneid ist so alt wie die Menschheit. Und vermutlich hat dieser Neid Wurzeln in unserer Biologie. Rein biologisch nämlich, also durch die Brille des "egoistischen Gens" gesehen, ist sich jedes Kind selbst am nächsten und versucht daher, das größte Stück vom Kuchen zu ergattern. Den Eltern dagegen stehen ihre leiblichen Kinder genetisch alle gleich nah und deshalb könnten sie die Tendenz haben - wenn es nicht an Nahrung oder sonstigen Ressourcen mangelt - aus purer "genetischer Berechnung" alles gleichmäßig unter ihren Nachkommen aufzuteilen. In Wirklichkeit waren die Rollen und Chancen der Kinder je nach ihrem Geschlecht und Rang in der Geburtenfolge schon immer sehr verschieden, in vielen Kulturen wurden die ältesten Söhne vor allen anderen ausgezeichnet. Doch in modernen Gesellschaften scheint sich der Trend unter Eltern durchzusetzen, die Kinder "gleich" zu behandeln. Eine einfache Überlegung zeigt nun aber, dass selbst bei mathematisch exakter Teilung von Zeit, Geld und allen anderen Ressourcen die mittleren Kinder insgesamt benachteiligt bleiben.
    Die Psychologen Dr. Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, Prof. Frank J. Sulloway von der University of California und Dr. Jennifer N. Davis von der Humboldt-Universität in Berlin stellten zunächst ein schlichtes Modell auf, welches sie als Gleichverteilungsheuristik bezeichnen. Sie nahmen an, dass Eltern zu jedem Zeitpunkt ihre Ressourcen wie Nahrung, Geld, Zeit etc. vollkommen gerecht auf die vorhandenen N Kinder verteilen. Alle X Jahre bekommen sie ein weiteres Kind und N erhöht sich auf N+1. Im Lauf der Jahre summieren sich die Zuwendungen, die die Kinder erhalten, doch je nach ihrem Rang in der Geburtenreihenfolge ihr "Kontostand" verschieden hoch angewachsen: Denn die Erstgeborenen müssen die ersten X Jahre nicht teilen und die darauf folgenden X Jahre zunächst nur mit einem einzigen Geschwister. Günstig wird die Bilanz auch für die allerjüngsten Kinder, aber erst am Ende ihrer Jugendzeit: Da die älteren Geschwister mit der Zeit selbständig werden, können dann auch die Nesthäkchen von den ungeteilten Ressourcen profitieren. Rein rechnerisch ergibt sich ein Nachteil für die mittleren Kinder, der umso größer ist, je mehr Geschwister vorhanden sind und je geringer der Geburtenabstand ausfiel.
    Dass gerade die mittleren Geschwister sich oft benachteiligt fühlen, war aus verschiedenen Studien bekannt, wurde aber bisher im Rahmen wesentlich komplexerer Familienmodelle interpretiert. Hertwig und seine Kollegen haben nun neun vorhandene Studien über Geschwister und ihre unterschiedlichen Lebenschancen neu ausgewertet und gezeigt, dass ihr einfaches Modell durchaus einen brauchbaren Erklärungsansatz bietet.
    So belegen Studien, dass jüngere Geschwister häufiger eine lückenhafte Impfgeschichte aufweisen als die ältesten Geschwister, die sich noch der ungeteilten Sorge der Eltern erfreuen konnten. In kinderreichen Familien auf den Philippinen stellten Wissenschaftler fest, dass die mittleren und jüngeren Kinder im Schnitt eine geringere Körpergröße erreichten - ein Hinweis auf unzureichende Ernährung in ihren ersten Lebensjahren, in denen sie schon mit mehreren Geschwistern teilen mussten. Auf einen späten Vorteil für die jüngsten Geschwister weisen Studien aus den USA hin: Eltern finanzieren ihren jüngsten Kindern mit höherer Wahrscheinlichkeit eine lange und kostspielige Ausbildung, weil die älteren Geschwister dann schon finanziell unabhängig geworden sind: Oft allerdings gezwungenermaßen und relativ zügig, um ihren Eltern nicht mehr auf der Tasche zu liegen.
    Die Gleichverteilungsheuristik zeigt, dass Gerechtigkeit kein einfaches Unterfangen ist: Gerade die gleiche Aufteilung von Ressourcen führt ja eben nicht zu gleichen Chancen. Aber kluge Eltern haben das wohl auch schon irgendwie geahnt und sich nicht sklavisch auf eine solche Heuristik verlassen. Jetzt haben sie auch eine wissenschaftliche Begründung dafür, warum es manchmal fairer ist, nicht gerecht zu sein.

    Von Antonia Rötger

    Hinweis an die Redaktionen:
    Der Pressetext basiert auf einer Publikation von Ralph Hertig, Jennifer N. Davis, Frank J. Sulloway in Psychological Bulletin2002, 128, 5, 728-745.
    Sie können diesen Text kostenfrei abdrucken oder weiter verarbeiten. Über ein Belegexemplar würden wir uns freuen. Mit fachlichen Fragen können Sie sich gerne an Dr. Ralph Hertwig wenden, MPIB, Forschungsbereich Adaptive Behavior and Cognition, Lentzeallee 94, 14 195 Berlin, E-Mail: hertwig@mpib-berlin.mpg.de, Tel.: 030 / 82406-354


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Pädagogik / Bildung, Psychologie
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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