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22.10.2002 10:09

Manche Göttin hat ihren Ursprung in einem einfachen Stein

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    In Indien gibt es zahlreiche Stammesgruppen, die ihre eigenen Gottheiten verehren. Viele davon sind im Laufe von Jahrhunderten mit Gottheiten des hinduistischen Pantheons verschmolzen. Die Indologin Dr. Cornelia Mallebrein reiste in entlegene Regionen, um alte Legenden, Kulte und Rituale der hinduisierten Stammesgottheiten zu dokumentieren. Viele Gottheiten sind noch heute eng mit den einstigen Herrschern Indiens, den Rajas, verbunden.

    Tübinger Indologin erforscht Legenden und religiöse Traditionen mittelindischer Stämme

    Die Legende berichtet, dass ein Bauer beim Pflügen plötzlich einen blutverschmierten Stein in der Erde sah. Blut steht für göttliche Energie, die Manifestation einer Gottheit. Diese wird zunächst als einfacher Stein verehrt. Dann geschehen Wunder, eine Frau, die bisher als unfruchtbar galt, bekommt ein Kind. Das spricht sich in der Region herum, Frauen kommen, um die Göttin um Hilfe zu bitten, und es kommt zu weiteren "Wundern". In der Folge erhält die Göttin einen festen Schrein mit einem Priester, der sie nun regelmäßig verehrt. Zu bestimmten Zeiten nimmt die Göttin Besitz von ihm, dann verleiht er ihr Stimme und Gesicht. Auf diese Weise haben sich zahlreiche Götter den Menschen zu erkennen gegeben. Die Mannigfaltigkeit der Gottheiten Indiens liegt in dem Glauben, dass die ganze Welt, Berge, Flüsse und Dörfer, von göttlicher Energie durchströmt ist. Dr. Cornelia Mallebrein vom Seminar für Indologie und Vergleichende Religionswissenschaft der Universität Tübingen dokumentiert bislang kaum bekannte religiöse Traditionen, vor allem im Bundesstaat Orissa.

    Seit 1999 ist sie Mitarbeiterin im Orissa-Schwerpunktprogramm, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert wird. Leiter des Projekts der Tübinger Indologie ist Prof. Heinrich von Stietencron. Cornelia Mallebrein hat ihre Forschungen der Öffentlichkeit in mehreren Ausstellungen zugänglich gemacht, eine Fotoausstellung in New Delhi vom Frühjahr 2002 wird in den nächsten Monaten in ganz Indien gezeigt. Sie wurde in Indien mit großem Interesse verfolgt. Das zeigt auch die umfangreiche, positive Berichterstattung in den indischen Medien.

    "Indien setzt sich aus sehr heterogenen Bevölkerungsgruppen mit jeweils eigener Sprache und Kultur zusammen. Zu diesen zählen die Urbewohner Indiens, die Adivasi, mit heute rund 80 Millionen Mitgliedern", so Mallebrein. Die Indologin untersucht, inwieweit die verschiedenen Stammesgruppen und ihre Gottheiten den Hinduismus geprägt haben und dokumentiert die Entwicklung der hinduisierten Stammesgottheiten bis in die Gegenwart. Vor allem im Laufe der letzten Jahrhunderte seien diese von Herrschern vereinnahmt worden, die in die Stammesgebiete eingedrungen waren. Dadurch dass sie die lokale Göttin zur Familien- und Schutzgöttin des neuen Herrschaftsgebiets erklärten, konnten sie sich die Loyalität der Stämme sichern. Sie errichteten Tempel für sie und veranstalteten Feste. Brahmanen-Priester, die im Kastensystem die höchste Stelle einnehmen, wurden in das Herrschaftsgebiet geholt. Ihre Aufgabe war es, die Verehrungsrituale (Puja) für die Göttin durchzuführen. "So gelang es den neuen Herrschern, die sich als Raja bezeichneten, sich in der Stammesregion zu etablieren", sagt Mallebrein. In Orissa gab es mehr als hundert solcher Regionalfürsten auf einem relativ kleinen Gebiet.

    Die indischen Stammesgruppen lebten früher sehr isoliert in den Dschungelregionen, meist ging man zu Fuß, bestenfalls gab es den Ochsenwagen. Der intensive Straßenausbau erfolgte erst in der Zeit britischer Herrschaft. "Um 1803 haben die Engländer Orissa okkupiert. Sie übertrugen den lokalen Regenten Titel wie Raja beziehungsweise Maharaja, und sie erhielten festen Landbesitz. Im Gegenzug führten die Rajas Steuern an die Engländer ab, dafür erhielten sie militärischen Schutz. Doch es blieben so viele Steuern übrig, dass sie ihre fürstlichen Zentren mit prachtvollen Gebäuden, Palästen und Tempeln ausstatten konnten", erzählt die Indologin. Im 20. Jahrhundert besaßen viele Rajas einen gewaltigen Fuhrpark, darunter zahlreiche Rolls Royce, Hundertschaften von Bediensteten sorgten für ihr Wohl. "Nicht mehr als hundert Jahre dauerte der gewaltige Pomp, denn mit der Unabhängigkeit Indiens 1947 verloren sie ihre Herrschaft und 1971 wurde alle Privilegien der Rajas auf Regierungsbeschluss abgeschafft", sagt Mallebrein. Die einstigen fürstlichen Zentren sind heute baulich in einem sehr schlechtem Zustand, zahlreiche Paläste sind eingestürzt oder existieren nicht mehr.

    Was passiert mit einer Göttin bei ihrem Aufstieg von einer Steingottheit des Waldes bis zu ihrer Verehrung in einem prachtvollen Tempel?, fragte Mallebrein zu Beginn ihrer Forschungen. Diese Informationen finden sich nicht in Archiven. Daher machte sich die Indologin auf die Reise durch Orissa, wichtige Informanten sind die Rajas. "Die meisten von ihnen sind inzwischen verarmt und leben sehr bescheiden. Wenn man die dortigen Hierarchie- und Höflichkeitsregeln befolgt, sind sie gern bereit, die Geschichte ihrer Familiengottheiten zu erzählen", sagt sie. Im Laufe ihrer bisherigen Forschungen konnte sie mehr als 60 sakrale Zentren dokumentieren. Historisch von ganz besonderer Bedeutung sind die alten Fotos der Rajas aus besseren Zeiten, die nun, schlecht gelagert, im feuchten Klima zerfallen - die Forschungen Mallebreins sind auch ein Kampf gegen die Zeit. Von über 500 dieser wertvollen Fotodokumente hat sie bereits Reproduktionen angefertigt.

    Im Weltbild der Stämme ist alles von göttlicher Energie belebt. Es gibt Gottheiten der Sonne, des Mondes, der Erde, des Dorfes und seiner Umgebung. Gottheiten beschützen das Haus, den Getreidespeicher, den Herd, ja sogar die Türschwelle. Den Legenden zufolge zeigen sich manche zunächst in nicht bildlicher Form als Stein oder Holzpfosten, andere machen während eines Traumes den Menschen deutlich, wo sie verehrt werden wollen. "Wichtig ist es, die göttlichen Zeichen zu erkennen", erklärt Mallebrein. Ein Hirte hatte eine Kuh, die keine Milch mehr gab. Er folgte ihr und sah, dass sie die Milch über einer bestimmten Stelle vergoss - einem göttlichen Ort. Solche Geschichten vom Ursprung der Gottheiten gehen mit der Zeit verloren, indem diese mit einer Hindugottheit verschmelzen, so Mallebrein. In Indien gebe es viele ganz unterschiedliche religiöse Traditionen und das mache das Land so faszinierend. "In Orissa lebt eine Stammesgruppe, die mittels Schamanen mit dem Jenseits kommunizieren kann. Die Schamanen leben in zwei Welten, sie sind nicht nur in der realen Welt, sondern auch im Jenseits mit spirituellen Partnern, den Ildas, verheiratet und haben dort sogar Kinder", erzählt Mallebrein. Die aufwendigen Wandbilder im Haus der Schamanen reflektieren die Ilda-Häuser im Jenseits. "Die Menschen leben sehr einfach und weit abgelegen, daher sind die Schamanen auch als Heiler bei Krankheiten von großer Bedeutung. Im Zustand der Trance können sie die krankheitsverursachenden Ahnen ausfindig machen und sie durch Opfergaben dazu zwingen, vom Kranken abzulassen", erklärt die Forscherin.

    Ein weiterer Forschungsschwerpunkt Mallebreins ist die Tradition der 'Gottheit im Menschen'. Gottheiten nehmen von ausgewählten Personen Besitz und können so mit den Gläubigen kommunizieren. Dem Medium kommt eine wichtige soziale Rolle zu, es ist Ratgeber, Heiler, aber auch Psychotherapeut. Ein weiteres in Indien bedeutendes Phänomen ist, dass Anhänger den 'Wind einer Gottheit' in sich spüren. Von göttlicher Energie erfüllt, führen sie sich auf wie Pferde oder Hunde. Vor allem in Mittelindien berühmt sind die Puruvanta, Anhänger des furchtlosen Gottes Virabhadra, einer Manifestation des Gottes Shiva. Sie stechen sich Metallspieße durch Wangen und Zunge, Beweis für die göttliche Präsenz in ihrem Körper. "Vor allem die Jugend lehnt derartige Rituale als rückständig ab, es ist nur eine Frage der Zeit, bis diese nicht mehr vorhanden sind, sie sterben aus", sagt Mallebrein. Die vielen komplexen religiösen Vorstellungen über Götter, Geister und Ahnen spiegelten den Versuch der Menschen wider, sich mit den harten Lebensbedingungen und der oft großen Armut zu arrangieren. Denn heiße Sommer, endlose Regengüsse des Monsuns und kalte Winter, Hungersnöte und Krankheiten seien ihre ständigen Begleiter. Gefährdet sind die religiösen Traditionen der Stämme zudem durch die vielen hinduistischen wie auch christlichen Missionsversuche. Letztere seien oft recht erfolgreich, denn der christliche Gott verlange keine teuren Tieropfer und der Priester kommt umsonst ins Haus.

    Nähere Informationen:

    Dr. Cornelia Mallebrein
    Seminar für Indologie und Vergleichende Religionswissenschaft
    Abteilung für Indologie
    Münzgasse 30
    72070 Tübingen
    Tel. 0 70 71/2 97 26 75
    Fax 0 70 71/29 26 75
    Im Oktober 2002: Tel./Fax: 0 75 33/75 72
    e-mail: mallebrein@aol.com

    Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html

    Unter dieser Adresse sind auch Bilder zu finden, die auf Anfrage in der Pressestelle per e-mail zugeschickt werden können.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Religion, Sprache / Literatur
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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