idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
07.08.2013 19:00

Wissenschaftlern gelingt die vollständige Rekonstruktion eines Stücks der Netzhaut

Dr. Stefanie Merker Presse und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Neurobiologie

    Die Entschlüsselung des Seins – das Gehirn und all seine Verbindungen zu verstehen, das verbirgt sich hinter dem Begriff Connectomics. Nun ist Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts (MPI) für medizinische Forschung (Heidelberg), des MPI für Neurobiologie (Martinsried) und des MIT (Massachusetts) ein wichtiger Schritt gelungen: Nach vier Jahren Datenanalyse haben sie ein exaktes Diagramm erstellt, das alle Nervenzellen und ihre Verbindungen in einem Stück der Netzhaut einer Maus zeigt. Bereits dieser vergleichsweise kleine Einblick ins Gehirn brachte sowohl einen neuen Zelltyp ans Licht, als auch Verschaltungen, die bestimmte Reaktionen einzelner Netzhautzellen erklären könnten.

    Das menschliche Gehirn besitzt zirka 100 Milliarden Nervenzellen, und jede ist über Tausende von Kontakten mit anderen Zellen verbunden. Schon lange vermuten Wissenschaftler, dass die Essenz unseres Seins – was wir fühlen, denken, woran wir uns erinnern – in diesen Kontakten gespeichert ist. Doch wie lässt sich das Geheimnis dieser Verbindungen entschlüsseln? "Schon der winzigste Würfel Gehirnmasse beinhaltet tausende Nervenzellen mit hunderttausenden Kontakten", sagt Moritz Helmstaedter, Erstautor der Studie und mittlerweile Leiter einer eigenen Arbeitsgruppe am MPI für Neurobiologie in Martinsried.

    Entschlüsselung des Connectomes

    Die Neurobiologen ließen sich von diesen Zahlen jedoch nicht abschrecken. In der Fachzeitschrift Nature berichten die Max-Planck-Forscher nun von einem großen ersten Schritt, der ihnen zusammen mit ihren Kollegen aus den USA gelungen ist: Sie haben alle Nervenzellen und Verbindungen aus einem Stück Mäusenetzhaut kartiert.

    Obwohl der Netzhautwürfel gerade einmal einen Zehntel Millimeter Kantenlänge hatte, kamen darin knapp 1000 Nervenzellen mit rund einer halben Million Verbindungen vor. "Wir brauchten ungefähr einen Monat um die Daten zu gewinnen und vier Jahre um sie zu analysieren" sagt Moritz Helmstaedter. Ein Grund dafür ist die extrem aufwändige Analyse der elektronenmikroskopischen Bilder des Hirngewebes: Die hauchdünnen Fortsätze der Nervenzellen müssen über lange Strecken verfolgt und Verbindungen zwischen ihnen erkannt werden. Heutige Computeralgorithmen sind für diese Aufgabe zwar sehr hilfreich, an vielen Stellen aber doch zu unzuverlässig. Daher müssen immer noch Menschen Entscheidungen über reale und falsche Abzweigungen in den neuronalen "Drähten" fällen. In der nun publizierten Arbeit verschlangen allein diese Entscheidungen rund 20.000 menschliche Arbeitsstunden. Um mit denselben Methoden die Verdrahtung eines ganzen Mäusegehirns zu entschlüsseln, wären mehrere Milliarden Arbeitsstunden nötig.

    Netzhautdiagramm gibt neue Einblicke

    Die Netzhaut wandelt nicht einfach nur Bilder in elektrische Signale um sondern trennt und filtert die Bildinformationen vor der Weitergabe an das Gehirn. Entsprechend komplex ist das Netzwerk der Nervenzellen in diesem kleinen Neurocomputer. Durch die Kartierung des Netzhautstücks stießen die Wissenschaftler nun auf einen bislang unbekannten Zelltyp, der zur Klasse der Bipolarzellen gehört, aber dessen Funktion zurzeit noch unklar ist. An anderer Stelle enthält das erstellte Verbindungsdiagramm Verschaltungsmuster, die erklären könnten warum manche Zellen auf eine ganz bestimmte Art auf Reize reagieren. "Diese Ergebnisse zeigen uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind, obwohl wir mit dieser Arbeit gerade einmal 0.1 Prozent der Netzhaut einer Maus analysiert haben", so Helmstaedter. Wie viele andere Neurobiologen ist er davon überzeugt, dass die Entschlüsselung des Connectomes die Hirnforschung revolutionieren wird.

    Hilfe von Hightech-Mikroskop und der Internetgemeinde

    "Unser Ziel ist es, das ganze Connectom eines Mäusegehirns zu analysieren und zu verstehen", sagt Winfried Denk, der gerade im Begriff ist sein Labor vom MPI für medizinische Forschung in Heidelberg ans MPI für Neurobiologie in Martinsried zu verlegen. Wie realistisch ist ein solch ehrgeiziges Ziel, wenn die Analyse des winzigen Netzhautstücks bereits vier Jahre gedauert hat? Ein ganzes Gehirn ist 200.000-mal größer. Denk ist zuversichtlich: "Ich bin davon überzeugt, dass wir den automatisierten Prozess, den wir auch für das Netzhautstück verwendet haben – das "serial block-face" Elektronenmikroskop – so skalieren können, dass man damit ein ganzes Mäusegehirn dreidimensional abbilden kann. Auch wenn wir dazu ein oder zwei Jahre durchgehend Daten aufnehmen müssen." Er merkt jedoch an, dass es im Moment noch keine realistische Analysemethode für die Daten gibt. "Außer, es gibt uns jemand die zig Millarden Euro um die menschlichen Arbeitsstunden zu bezahlen", fügt er lachend hinzu. Helmstaedter hat für dieses Problem schon eine Idee – er setzt mit seiner Forschungsgruppe auf die Hilfe der Internetgemeinde: "Noch in diesem Jahr wollen wir mit dem Spiel Brainflight online gehen, in dem Internetnutzer auf der ganzen Welt Nervenbahnen nachfliegen und Punkte sammeln können. Gleichzeitig sagen uns ihre Entscheidungen etwas über die realen Verbindungen zwischen Nervenzellen." Heutige Algorithmen basieren oft auf maschinellem Lernen und werden daher immer besser werden, je mehr sie mit Trainingsdaten gefüttert werden. Die Daten der Internetspieler helfen somit auch bei der Entwicklung besserer Algorithmen für die computergestützte Datenanalyse.

    Originalveröffentlichung:
    Moritz Helmstaedter, Kevin L. Briggman, Srinivas C. Turaga, Viren Jain, H. Sebastian Seung, & Winfried Denk
    Connectomic reconstruction of the inner plexiform layer in the mouse retina
    Nature, 8. August 2013

    == Diese und andere Bilder können in hoher Auflösung von den Kontaktpersonen bzw. ab dem 8.8. von der Webseite des MPI für Neurobiologie heruntergeladen werden. ==

    Kontakt:
    Dr. Moritz Helmstaedter
    Struktur neokortikaler Schaltkreise
    Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
    Tel.: 089 8578 3690
    Email: mhelmstaedter@neuro.mpg.de

    Winfried Denk
    Max-Planck Institut für Medizinische Forschung, Heidelberg.
    Denk@mpimf-Heidelberg.mpg.de
    Tel.: 06221 486 335

    Dr. Stefanie Merker
    Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
    Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
    Tel.: 089 8578 - 3514
    E-Mail: merker@neuro.mpg.de
    www.neuro.mpg.de


    Weitere Informationen:

    http://www.neuro.mpg.de - Webseite des MPI für Neurobiologie
    http://www.neuro.mpg.de/helmstaedter - Webseite der Gruppe von Moritz Helmstaedter


    Bilder

    Wissenschaftler rekonstruieren alle Nervenzellen und ihre Verbindungen in einem Stück der Netzhaut einer Maus. Die "Kugeln" zeigen die Zell-körper: Ganglion-Zellen in Blau, Amakrinzellen in Grün, Bipolarzellen in Orange und Fotorezeptoren in Grau. Im Hintergrund erscheint die Verbindungsmatrix, das Connec-tome, der 950 Nervenzellen.
    Wissenschaftler rekonstruieren alle Nervenzellen und ihre Verbindungen in einem Stück der Netzhaut e ...
    © MPI für medizinische Forschung / Kuhl & Denk
    None

    Rekonstruktion von 950 Nervenzellen und ihren Verbindungen in einem Stück Netzhaut einer Maus. Die Daten wurden mit dem "serial block-face" Elektronenmikroskop (graue Blöcke) gewonnen und mit Hilfe von 200 Studenten analysiert.
    Rekonstruktion von 950 Nervenzellen und ihren Verbindungen in einem Stück Netzhaut einer Maus. Die D ...
    © MPI für medizinische Forschung / Isensee & Kuhl
    None


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Lehrer/Schüler, Studierende, Wissenschaftler, jedermann
    Biologie
    überregional
    Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
    Deutsch


     

    Wissenschaftler rekonstruieren alle Nervenzellen und ihre Verbindungen in einem Stück der Netzhaut einer Maus. Die "Kugeln" zeigen die Zell-körper: Ganglion-Zellen in Blau, Amakrinzellen in Grün, Bipolarzellen in Orange und Fotorezeptoren in Grau. Im Hintergrund erscheint die Verbindungsmatrix, das Connec-tome, der 950 Nervenzellen.


    Zum Download

    x

    Rekonstruktion von 950 Nervenzellen und ihren Verbindungen in einem Stück Netzhaut einer Maus. Die Daten wurden mit dem "serial block-face" Elektronenmikroskop (graue Blöcke) gewonnen und mit Hilfe von 200 Studenten analysiert.


    Zum Download

    x

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).