100 Jahre Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten
DGVS erinnert an verfolgte Ärzte und Menschenexperimente in der NS-Zeit
Berlin – Die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) feiert in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag. Zum Jubiläum erinnern die Magen-Darm-Spezialisten nicht nur an die Errungenschaften der Fachgesellschaft. Sie thematisieren auch die dunklen Kapitel ihrer Geschichte. Auf dem Jahreskongress „Viszeralmedizin 2013“ in Nürnberg vom 11. bis 14. September 2013 stehen im Rahmen einer besonderen Sitzung Vorträge über die Vertreibung jüdischer Ärzte und über medizinische Experimente während der NS-Zeit auf dem Programm.
„Im Rückblick auf unsere Geschichte ist es uns wichtig, nicht nur die Höhepunkte und Verdienste unserer Fachgesellschaft zu berücksichtigen, sondern auch an die nach 1933 vertriebenen und aus der Fachgesellschaft ausgeschlossenen Gastroenterologen jüdischer Abstammung zu erinnern und sich der Verstrickung von Gastroenterologen im Dritten Reich zu stellen“, sagt DGVS-Präsident Professor Dr. med. Markus M. Lerch, Direktor der Klinik für Innere Medizin A am Universitätsklinikum Greifswald, im Vorfeld des Kongresses.
Mit einer eigens verfassten Jubiläumschronik, einer Ausstellung und einem Symposium zur Geschichte setzt sich die Fachgesellschaft auf dem Kongress „Viszeralmedizin 2013“ aktiv mit ihrer Vergangenheit auseinander. „1933 wurden mindestens einhundert Mitglieder der Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten aus rassischen Gründen aus der Mitgliederliste getilgt“, erklärt DGVS-Archivar Dr. med. Harro Jenss aus Worpswede. Erschreckend anschaulich zeigt dies eine abgedruckte Mitgliederliste von 1932 im Jubiläumsbuch „100 Jahre DGVS“: Die Namen der jüdischen Mitglieder, die die Gesellschaft verlassen mussten, sind hier rot ausgestrichen. „Für sie bedeutete die nationalsozialistische Politik Entrechtung und Vertreibung“, so Jenss.
Beispielhaft nennt der Experte den jüdischen Gastroenterologen und DGVS-Mitbegründer Ismar Boas. 1913 gehörte Boas zum fünfköpfigen Vorstand, der im April 1914 zur „Ersten Tagung über Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten“ nach Bad Homburg einlud. Seit seiner Niederlassung als „Specialarzt für Magen- und Darmkrankheiten“ im Jahr 1886 hatte sich der Arzt und Wissenschaftler – gegen sämtliche Widerstände – konsequent für die Entwicklung des neuen Fachgebiets eingesetzt. Doch die Herrschaft der Nationalsozialisten beendete Boas’ Karriere und letztlich sein Leben: 1936 flüchtete der Arzt ins Exil nach Wien. Nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1938 nahm er sich dort das Leben.
Neben den Opfern nennt die DGVS erstmals auch Täter aus den eigenen Reihen beim Namen. „Einige der damals führenden Gastroenterologen waren in das Dritte Reich tief verstrickt“, erklärt Professor Lerch. So studierten etwa die Gastroenterologen Hans Voegt, Kurt Gutzeit und Arnold Dohmen die Übertragung des Hepatitis A-Erregers: Voegt infizierte unter anderem psychiatrische Patienten einer Breslauer Nervenklinik mit den Viren. Dohmen experimentierte mit elf jüdischen Kindern und Jugendlichen, die er zuvor im Konzentrationslager Ausschwitz selektiert hatte. Im Konzentrationslager Sachsenhausen exponierte er die Jugendlichen mit infektiösem Hepatits A-Material und nahm bei mindestens einem Jugendlichen eine nicht risikofreie Leberpunktionen vor.
Im Rahmen des Symposiums „DGVS 1913–2013“ auf der „Vizeralmedizin 2013“ wird Dr. med. Brigitte Leyendecker, die seit den 1980er Jahren die Umstände der Hepatitis A-Forschung zwischen 1941 und 1945 erforscht, zum Thema referieren. Harro Jenss spricht über das Schicksal von Ismar Boas und bietet Führungen durch die Ausstellung zur Geschichte der Fachgesellschaft an. Zudem wird er über das Schicksal der vermutlich ersten Fachärztin für Magen-Darm-Krankheiten Deutschlands berichten: Dr. med. Ina Finkelstein war in Berlin als Spezialärztin niedergelassen. 1933 verlor sie aufgrund der NS-Gesetzgebung die Kassenzulassung, 1938 die Approbation. Sie gehörte 1939 zu jenen jüdischen Passagieren der MS "St. Louis", die aus Hamburg über Kuba in die USA emigrieren wollten. Das Schiff erhielt jedoch keine Genehmigung zur Landung und musste nach Europa zurückkehren. Ina Finkelstein lebte seit Juni 1939 in Amsterdam. Sie wurde im Juli 1943 aus Holland in das Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort – 50-jährig – am Tag der Ankunft ermordet.
Die Tagung der DGVS, deren Sektion gastroenterologische Endoskopie und der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) findet vom 11. bis 14. September 2013 im NCC Ost in Nürnberg statt.
Die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten (DGVS) wurde 1913 als wissenschaftliche Fachgesellschaft zur Erforschung der Verdauungsorgane gegründet. Heute vereint sie mehr als 5000 Ärzte und Wissenschaftler aus der Gastroenterologie unter einem Dach. Die DGVS fördert sehr erfolgreich wissenschaftliche Projekte und Studien, veranstaltet Kongresse und Fortbildungen und unterstützt aktiv den wissenschaftlichen Nachwuchs. Ein besonderes Anliegen ist der DGVS die Entwicklung von Standards und Behandlungsleitlinien für die Diagnostik und Therapie von Erkrankungen der Verdauungsorgane – zum Wohle des Patienten.
Literatur:
100 Jahre DGVS
Herausgeber: Harro Jenss, Guido Gerken, Markus M. Lerch; August Dreesbach Verlag, 2013
Jenss H.
Ismar Boas. Erster Spezialarzt für Magen- und Darmkrankheiten. Begründer der Gastroenterologie.
Jüdischen Miniaturen, Band 96. Hentrich&Hentrich Verlag. Berlin 2010.
Leyendecker B.
Deutsche Hepatitisforschung im Zweiten Weltkrieg.
In: Ärztekammer Berlin in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer (Hg.).Der Wert des Menschen. Edition Hentrich. Berlin 1989, 261-315.
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Terminhinweise:
DGVS 1913–2013, Symposium anlässlich des 100jährigen Jubiläums der DGVS
Termin: Samstag, 14. September 2013, 10.30 bis 11.45 Uhr
Ort: Raum Shanghai, NCC Ost, Nürnberg
Vorsitz: Professor Guido Gerken, Essen (Kongresspräsident)
Professor Markus M. Lerch, Greifswald (DGVS Präsident)
Professor Georg Strohmeyer, Neuss (Ehrenmitglied DGVS)
Vorträge
Ismar Boas und die ersten 30 Jahre der Gesellschaft
für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten
H. Jenss, Worpswede
Rudolf Schindler und die Gastroskopie
P. K. Schäfer, Oberwinter
Wissenschaft ohne Menschlichkeit:
Die Hepatitis epidemica-Versuche 1941–1945
B. Leyendecker, Berlin
DDR–Gastroenterologie und die Wiedervereinigung: Gründung und Forschungsprojekte
J. Schoenemann, Köln
DDR–Gastroenterologie und die Wiedervereinigung: 1975–1990
R. Nilius, Halle
Führung für Journalisten durch die Ausstellung „100 Jahre DGVS“
Leitung: Dr. med. Harro Jenss, Archivar der DGVS
Termin: Freitag, 13. September 2013, 12.30 Uhr (im Anschluss an die Pressekonferenz s.u.)
Ort: Ausstellung „100 Jahre DGVS“ in den Galerien im Atrium, NürnbergConvention Center (NCC Ost)
Kongress-Pressekonferenz anlässlich der Viszeralmedizin 2013
Termin: Freitag, 13. September 2013, 10.45 bis 11.45 Uhr
Ort: Raum Prag im NürnbergConvention Center (NCC Ost)
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Kontakt für Journalisten:
Pressestelle Viszeralmedizin 2013
Juliane Pfeiffer, Irina Lorenz-Meyer
Pf 30 11 20
70451 Stuttgart
Tel: 0711 8931-693, Fax: 0711 8931-167
pfeiffer@medizinkommunikation.org
http://www.viszeralmedizin.com; http://www.dgvs.de; http://www.dgav.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Medizin
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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