Osteuropaexperten tagen vom 9.-12. Juli an der Uni Jena
Jena (08.07.98) "Die zeitgeschichtliche Forschung zur Sowjetunion steht bis jetzt auf sehr dünnen Beinen", analysiert Prof. Dr. Stefan Plaggenborg. Diesen Zustand wollte der Lehrstuhlinhaber für Osteuropäische Geschichte der Universität Jena ein wenig verbessern und lud zur Tagung "Probleme bei der Historisierung der sowjetischen Geschichte 1945-1991" ein. Ein kleiner interdisziplinärer Kreis von etwa 35 Sowjetexperten trifft sich ab morgen im Senatssaal der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Fürstengraben 1), um bis zum 12. Juli Interpretationsmodelle zur sowjetischen Geschichte zu analysieren.
Seit die Quellen für die Forschung weitgehend zugänglich sind, sollen nun die "analytischen Kategorien" untersucht werden. Reicht es aus, bestimmte Interpretationsmodelle - wie Fragen nach der sozialen Schichtung oder Totalitarismustheorien - auf die Sowjetunion anzuwenden? "Die komplexe Wirklichkeit der Sowjetunion wird mit bisherigen Modellen nicht erfaßt", ist sich Prof. Plaggenborg sicher. "Die Tagung ist ein Versuch", so der Jenaer Organisator, "vorhandene Modelle auf ihren Erklärungswert abzuklopfen und Teile der verschiedenen Modelle neu zusammenzufügen". Er warnt allerdings vor Einseitigkeit bei der Perspektivenwahl: "Ich bin dagegen, daß man als Historiker nur ein Modell hat. Ich bin für Methoden- und Modellpluralismus", unterstreicht der Jenaer Osteuropahistoriker.
Die Sowjetunion hat in der Zeit von 1947 bis 1977 grundlegende Veränderungen durchgemacht. Nachdem im 2. Weltkrieg über 20 Millionen Sowjetbürger starben, war die Gesellschaft völlig durcheinandergewirbelt - die Historiker sprechen von einer "Flugsandgesellschaft". Bis in die 70er Jahre entwickelte sich das Land zu einer städtisch geprägten Industriegesellschaft. Denn die Sowjetunion, die ihre Reindustrialisierung aus eigenen Kräften bewältigte, hat eine wirtschaftliche Produktion erreicht, deren Wachstumsraten höher gelegen haben als in Europa - zumindest bis zu den tiefen Krisen in den 70er Jahren, erläutert Plaggenborg.
Um dem gewaltigen Sowjetreich wenigstens einigermaßen gerecht zu werden, stellt die Tagung die vier Bereiche Politische Herrschaft, Wirtschaft, Sowjetgesellschaft sowie Imperium und 'Imperialismus' in den Brennpunkt. Das Problem des sowjetischen Antisemitismus wird dabei ebenso wenig ausgespart, wie das Klischee, daß alles in der Sowjetunion nur von oben nach unten funktioniert habe. "Die Masse der Bevölkerung war loyal", stellt Plaggenborg klar. Welche Mechanismen dabei eine Rolle gespielt haben, wollen die Historiker analysieren. Wenn dabei beispielsweise die sozialen Bedingungen, die etwa in der Kinderbetreuung besser als im übrigen Europa waren, wirklich eine bedeutende Rolle spielten, dann werden die Tagungsergebnisse auch für den ostdeutschen Transformationsprozeß von Bedeutung sein.
Verloren gehen die Resultate auf keinen Fall, denn sie werden in die moderne Geschichtsschreibung Einzug finden. Prof. Plaggenborg und sein Team arbeiten in Jena gerade am Band 4 des "Handbuchs der Geschichte Rußlands" - und der umfaßt den Zeitraum von 1945-1991.
Kontakt:
Prof. Dr. Stefan Plaggenborg
Historisches Institut der Universität Jena
Humboldtstr. 11
07743 Jena
Tel.: 03641/944460
Fax: 03641/944462
Friedrich-Schiller-Universität
Referat Öffentlichkeitsarbeit
Axel Burchardt M. A.
Fürstengraben 1
07743 Jena
Tel.: 03641/931041
Fax: 03641/931042
e-mail: hab@sokrates.verwaltung.uni-jena.de
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Geschichte / Archäologie
überregional
Buntes aus der Wissenschaft, Wissenschaftliche Tagungen
Deutsch
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