Soziologe der Universität Jena hat Züricher Problem-Stadtteil wissenschaftlich untersucht
Jena (11.12.02) Drogen, Prostitution, Gewalt - im Stadtteil Außersihl treten Zürichs Probleme offen zutage. Allen Krisen zum Trotz ist das traditionelle Arbeiter- und Einwandererviertel bisher nicht ins soziale Chaos abgerutscht. Der Grund: In Außersihl haben sich über Generationen hinweg besondere Strategien entwickelt, mit denen sich das konfliktträchtige Nebeneinander unterschiedlicher Kulturen und Lebenswelten meistern lässt. Zu diesem Ergebnis kommt eine jetzt veröffentlichte Studie unter Leitung von Prof. Dr. Bruno Hildenbrand. "Zürich-Außersihl ist ein Modell für die Großstädte der Zukunft", erklärt der Soziologe von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, "und von seinen Einwohnern können wir lernen, wie man in solchen Städten am besten leben wird".
Grundlage der vom Schweizer Nationalfonds finanzierten Studie sind zahlreiche Interviews, die zwischen 1998 und 2000 mit den Einwohnern von Außersihl geführt wurden. Das Interesse der Sozialwissenschaftler an dem Bezirk wurde geweckt, als sich nach der Räumung der offenen Züricher Drogenszene im Jahr 1995 der Schwerpunkt von Drogenhandel und -konsum in der Stadt dorthin verlagerte. In dieser Situation begann die Stadtverwaltung damit, für die Abhängigen Notschlafstellen, Fixerstuben und eine staatlich kontrollierte Heroin- und Methadonabgabe einzurichten. "Ursprünglich wollten wir wissen, ob dieses so genannte niederschwellige Angebot das Bedrohtheitsgefühl im Viertel verringert hatte. Aber bald trat die grundsätzlichere Frage in den Vordergrund, warum sich die Drogenproblematik in einem bestimmten Stadtteil konzentrierte", berichtet Prof. Hildenbrand.
Den Forschern fiel auf, dass die aktuelle Krise des Viertels eine lange Vorgeschichte hat: "Außersihl ist seit Jahrhunderten ein Gebiet, das bei den Bewohnern der Züricher Kernstadt in schlechtem Ruf steht. Alles Fremde und Unerwünschte wurde und wird dorthin verbannt - die heutige Drogenproblematik ist nur ein Teil dieser größeren Außenseiterproblematik", legt der Jenaer Soziologe dar. Um sich gegenüber der ständigen Abwertung durch die Kernstadt zu behaupten, entwickelte die Bevölkerung von Außersihl einen eigenen Stolz und eine Form von Solidarität, die Fremdes und Anderes tolerierte. Zuwanderer fanden ein Umfeld vor, in dem sie sich trotz ihrer anders geprägten Lebensweise zugehörig fühlen konnten. In dieser noch heute lebendigen "lokalen Kultur der Differenz" sieht Hildenbrand den Grund dafür, dass Gesetz- und Orientierungslosigkeit in Außersihl bisher nicht die Oberhand gewonnen haben - obwohl das Verhalten von Prostituierten und Drogenkonsumenten die Geduld der Einwohner oft auf eine harte Probe stellt und immer wieder zu Forderungen nach rigider Integration oder nach Herstellung von "Nicht-Sichtbarkeit des Abweichenden" provoziert. Außerdem hat das niederschwellige Angebot der Drogenhilfe die Gewalttätigkeit innerhalb der Drogenszene spürbar zurückgehen lassen. "In den Städten der globalisierten Welt werden, wie in Außersihl schon lange", prognostiziert der Jenaer Soziologe, "immer mehr Menschen auf engem Raum zusammen wohnen, deren Lebensweisen stark voneinander abweichen und die nicht dort leben, woher sie stammen - die sich aber trotzdem irgendwo zu Hause fühlen wollen." Gerade weil Außersihl kein harmloser Abenteuerspielplatz sei, so Hildenbrand weiter, sei es ein Vorbild dafür, wie die Menschen in solchen Städten ihre Konflikte regeln und zu einer friedlichen Koexistenz finden könnten.
Allerdings hat die Toleranz von Außersihl, obwohl größer als anderswo, auch ihre Grenzen. "Weil die ständige Herausforderung der friedlichen Koexistenz im Viertel, etwa durch Lärm oder Aggressivität, das Alltägliche ist, muss es einen Minimalkonsens über die Verhaltensregeln geben, die für alle gelten", fasst Hildenbrand ein weiteres Ergebnis der Studie zusammen - sonst werde die Differenzkultur schließlich überstrapaziert, und die Toleranz schlage in das Bestreben um, Fremdes auszugrenzen. "Das Leben in der Stadt der Zukunft setzt die Einhaltung dieser Spielregeln voraus", ist sich der Soziologe sicher, "und wenn der Minimalkonsens verletzt wird, ist der Verzicht auf Toleranz gegenüber solchen Regelverletzungen ein zwingendes Gegenmittel."
Die ausführlichen Ergebnisse sind jüngst erschienen in: Christa Berger, Bruno Hildenbrand, Irene Somm: Die Stadt der Zukunft. Leben im prekären Wohnquartier (Leske + Budrich, Opladen 2002. 219 Seiten, ISBN 3-8100-3490-8, 19,90 Euro).
Kontakt:
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand
Institut für Soziologie der Universität Jena
Carl-Zeiß-Str. 2, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 945550
Fax: 03641 / 945552
E-Mail: Hildenbrand@soziologie.uni-jena.de
Prof. Dr. Bruno Hildenbrand: Der Soziologe von der Universität Jena hat einen Züricher Problem-Stadt ...
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Die jüngst erschienene Publikation mit den ausführlichen Ergebnissen der Untersuchung.
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Gesellschaft
überregional
Forschungsergebnisse, Wissenschaftliche Publikationen
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