Mehr als 1 Million indischer Soldaten fanden sich - allzu oft als Kanonenfutter - auf den Schlachtfeldern von Flandern und Mesopotamien/Vorderasien wieder. Ihre Erinnerungen sind in Deutschland bisher kaum Gegenstand öffentlicher Debatten.
Die Neuerscheinung Soldat Ram Singh und der Kaiser. Indische Kriegsgefangene in deutschen Propagandalagern 1914-1918, hrsg. von Franziska Roy, Heike Liebau, Ravi Ahuja, (Draupadi Verlag Heidelberg, Januar 2014) arbeitet die erstaunlichen Zeugnisse in Schrift und Ton jener Zeit auf.
100 Jahre nach Ausbruch des „großen Krieges“, der von Zeitgenossen nicht umsonst alsbald zum Ersten Weltkrieg stilisiert wurde, erleben wir eine überraschend intensive Auseinandersetzung mit der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Publikationen, die dieser Tage diskutiert werden, beschäftigen sich dabei vor allem mit der Kulturgeschichte des Krieges, mit Fragen von Kriegsursachen und Kriegsschuld (Ernst Pieper, Nacht über Europa; Christopher Clark, Die Schlafwandler; Herfried Münkler, Der Große Krieg). So wichtig diese Debatten sind, so haben sie als Fluchtpunkt doch einmal mehr das Denken und Tun der „great and white men“. Wirtschaft und Kolonialismus oder gar eine außereuropäische Perspektive sind kaum Untersuchungsgegenstand, obgleich die globale Natur des Weltkrieges immer wieder unterstrichen wird. 100 Jahre nach dem Krieg werden die Erfahrungen und Opfer von Millionen indischer und afrikanischer Angehöriger kolonialer Streitkräfte in der Forschung und in der öffentlichen Auseinandersetzung noch immer vernachlässigt.
Im Mittelpunkt des Sammelbands stehen Begegnungen und Erfahrungen von indischen Kriegsteilnehmern. Viele von ihnen ließen im Ersten Weltkrieg ihr Leben; andere gerieten in langjährige Gefangenschaft. Etwa 2000 von ihnen, meistens Seeleute und Soldaten aus Dörfern in Bengalen, Nepal und dem Punjab, kamen in deutsche Kriegsgefangenenlager. Wie andere „exotische“, vor allem muslimische, Gefangene wurden auch die Südasiaten zur Zielscheibe der deutschen Orientstrategie, welche auf die Anstiftung von Revolten in den Kolonien der Entente abzielte. Der Osmanische Kalif rief im November 1914 die Muslime der Welt zum jihad, zum "heiligen Krieg" gegen die Alliierten auf. Das verbündete Deutsche Reich schloss sich diesem Aufruf an! Sowohl deutsche Propagandisten als auch indische Revolutionäre versuchten die Gefangenen im antikolonialen Sinn zu indoktrinieren, während Wissenschaftler sie als willkommene Studienobjekte in einem „Völkerzirkus“ vor der eigenen Haustür betrachteten.
In „Sonderlagern“ trafen die zeitgenössischen Gegensätze aufeinander: indische Nationalisten und deutsche Offiziere; militärischer Opportunismus und langfristige außenpolitische Ziele; unverhohlener Rassismus und Faszination gegenüber den „edlen Wilden“; Vorzugsbehandlung der zu indoktrinierenden Gefangenen und Kälte, Hunger, Krankheit, Tod in den notdürftig erstellten Baracken.
Die AutorInnen zeichnen die Wege der Inder durch den Krieg nach und zeigen, wie Gefangene ihrerseits Kriegserfahrungen bewältigten und sich im Geflecht der Interessen im Lager zu Recht fanden.
Beiträge:
Ravi Ahuja: Vergessene Konfrontationen. Südasiatische Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft, 1915-1918.
Franziska Roy: Zwischen Zwangsarbeit und ‘Kollaboration’. Südasiatische Zivilgefangene in deutschen Kriegsgefangenenlagern.
Heike Liebau: Das Deutsche Auswärtige Amt. Indische Emigranten und propagandistische Bestrebungen unter den südasiatischen Kriegsgefangenen im „Halbmondlager“.
Christian Koller: Deutsche Wahrnehmungen feindlicher Kolonialtruppen.
Britta Lange: „Wenn der Krieg zu Ende ist, werden viele Erzählungen gedruckt werden.” Südasiatische Positionen und europäische Forschungen im „Halbmondlager“.
Jürgen-K. Mahrenholz: Südasiatische Sprach- und Musikaufnahmen im Lautarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin.
Margot Kahleyss: Indische Kriegsgefangene im 1. Weltkrieg – Fotografien als Quellenmaterial.
Heike Liebau: Hindostan. Eine Zeitung für südasiatische Kriegsgefangene in Deutschland 1915-1918.
Überarbeitete deutsche Fassung von:
„When the war began, we heard of several kings“, South Asian Prisoners in World War I Germany. New Delhi: Social Science Press, 2011.
Heike Liebau und Franziska Roy sind Wissenschaftlerinnen am Berliner Zentrum Moderner Orient. Für ein Rezensionsexemplar oder Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an: sonja.hegasy@zmo.de
Das Zentrum Moderner Orient (ZMO) unter Leitung der Nahost-Historikerin Prof. Ulrike Freitag ist die einzige Forschungseinrichtung Deutschlands, die sich inter-disziplinär und in historisch-vergleichender Perspektive mit dem Nahen Osten, Afrika, Zentralasien, Süd- und Südostasien befasst. Im Mittelpunkt der Forschung steht die Interaktion überwiegend islamisch geprägter Gesellschaften sowie deren Beziehungen mit den nicht-islamischen Nachbarregionen.
http://www.draupadi-verlag.de/Buecher/Buchinfo_Weltkrieg.pdf Waschzettel Draupadi Verlag
http://www.zmo.de Zentrum Moderner Orient
http://www.zmo.de/forschung/projekte_2014_2019/liebau_brothers_kheiri_e.html Dr. Heike Liebau (Forschungsgruppenleiterin)
http://de.wikipedia.org/wiki/Halbmondlager Wikipediaeintrag zum Halbmondlager Wünsdorf-Zossen
http://www.zmo.de/forschung/projekte_2014_2019/roy_british_india_e.html Dr. Franziska Roy
Indischer Kriegsgefangener im Halbmondlager Wünsdorf-Zossen
Sammlung des Museums Europäischer Kulturen - Staatliche Museen zu Berlin, Nachlass Otto Stiehl, VIII Eu27600a
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Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Lehrer/Schüler, Wissenschaftler
Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Medien- und Kommunikationswissenschaften, Politik, Sprache / Literatur
überregional
Forschungsprojekte, Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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